Psychische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern. Margarete Bolten

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Название Psychische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern
Автор произведения Margarete Bolten
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783170362925



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Stirn. Der Notfallmediziner vermutet sofort eine Gewalteinwirkung, die nach erstem Negieren von der Mutter bestätigt wurde. Gewalt zwischen ihr und ihrem Partner sei immer mal wieder ein Thema, doch da sie sich illegal im Land aufhalte und kein eigenes Einkommen habe, müsse sie zusammen mit ihm und ihren zwei Kindern in einer sehr kleinen Wohnung leben. In letzter Zeit seien die Spannungen zwischen ihnen jedoch immer mehr geworden, vor allem weil Tom sehr viel geschrien habe und nur schlecht schlafe. In der Nacht als das Schütteln passierte, sei ihr Partner komplett ausgerastet. Er habe sie angeschrien, sie solle endlich dafür sorgen, dass ihr Sohn aufhöre zu schreien. Schließlich sei er dann selbst zu den Kindern ins Zimmer gegangen und habe Tom aus dem Bett gerissen. Er habe ihn angeschrien und geohrfeigt. Als Tom immer weiter weinte, habe er ihn drei- bis viermal richtig durchgeschüttelt, dann habe er ihn auf das Bett geworfen. Sie könne sich nicht mehr erinnern, wie lange das gedauert habe. Sie wisse nur noch, dass irgendwann die Polizei an der Tür geklingelt habe.

      Der Patient wird nach Aufnahme zusammen mit seinem älteren Bruder notfallmäßig zur Beobachtung und zum Schutz vor weiterer Gewalteinwirkung in der Kinderklinik hospitalisiert. Das Jugendamt wird involviert, welches die Unterbringung beider Kinder in einer Pflegefamilie veranlasst.

      2.3 Epidemiologie der Schlafstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter

      Gemäß einem Literaturreview (Honaker & Meltzer, 2016) berichten bis zu 30 % aller Eltern von Schlafstörungen in der pädiatrischen Praxis. Regelhaftes nächtliches Erwachen über den 6. Monat tritt gemäß Sadeh et al. (2009) bei ca. 55 % aller Kinder auf. Schlafprobleme im Säuglings- und Kleinkindalter sind also ein sehr häufiges Problem. Die Prävalenzzahlen für Schlafstörungen schwanken jedoch sehr stark, abhängig von der jeweils zugrunde gelegten Definition und der untersuchten Population. Beispielsweise berichten asiatische Eltern in der Studie von Sadeh, Mindell und Rivera (2011) deutlich häufiger, dass ihr Kind ein Schlafproblem habe als europäisch-stämmige Eltern (26 % vs. 52 % für Schlafprobleme gesamt; 2 % vs. 17 % für schwerwiegende Schlafprobleme). In einer schwedischen Untersuchun (Thunstrom, 1999) mit insgesamt 2 518 Kindern zwischen 6 und 18 Monaten berichteten 16 % der Eltern von mittleren bis schweren Einschlafproblemen und 30 % berichteten regelmäßiges nächtliches Erwachen. In der Studie von Mersky et al. (2020) berichten 11 % der befragten US-amerikanischen Mütter von mindestens dreimaligem nächtlichem Erwachen bei ihren Kindern in den ersten 12 Lebensmonaten. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen um sogenannte verhaltensassoziierte Schlafstörungen (»behavioral sleep problems«). Verhaltensassoziierte Schlafprobleme während des Säuglings und Kleinkindalter sind vor allem verlängerte Einschlafphasen (»bedtime resistence«), nächtliches Erwachen und eine verkürzte Gesamtschlafdauer. Laut Davis et al. (2012) treten solche Störungen bei mehr als der Hälfte der untersuchten Kinder täglich auf.

      Für die meisten Eltern von Säuglingen und Kleinkindern sind Schlafstörungen jedoch insgesamt nur ein leichtes Problem (23 %). Lediglich 2 % der Eltern berichteten von schwerwiegenden Schlafproblemen. Dies spiegeln auch die longitudinalen Daten von Eltern zu den Schlafschwierigkeiten ihrer Kinder in den ersten 12 Monaten von Cook et al. (2020) wider. Die Autoren untersuchten 1 460 Erstgeborene Kinder im Alter von 3, 6, 9 und 12 Monaten. Dabei fanden sie bei 24,7 % der untersuchten Kinder keine bedeutsamen und bei 27,3 % moderate Schlafprobleme im Elternurteil. Keine der befragten Eltern klassifizierten außerdem häufiges nächtliches Erwachen ihrer Kinder in den ersten 3 Monaten als problematisch. Erst nach 6 Monaten bezeichneten einige Eltern das häufige Erwachen ihres Kindes als Schlafproblem. Obwohl Schlafprobleme von Säuglingen und Kleinkindern ein so häufiges Phänomen sind, stellen sie also für die wenigsten Eltern eine massive Beeinträchtigung dar und nur wenige suchen aufgrund der Probleme professionelle Hilfe auf (Paavonen et al., 2020). Es zeigt sich aber auch, dass Eltern, welche das Schlafverhalten ihres Kindes als problematisch bezeichnen, selbst häufiger psychosozialen Stressfaktoren ausgesetzt waren (Sadeh et al., 2011) oder stark ausgeprägte Sorgen und Ängste um das Wohlbefinden und die Gesundheit des Kindes hatten, obwohl alle bisherigen pädiatrischen Untersuchungen keinen Anlass dazu gaben und sich die Kinder mit schweren Schlafstörungen nicht hinsichtlich verschiedener Gesundheitsparametern von den Kindern ohne Schlafprobleme unterschieden (Thunstrom, 1999).

      Die Prävalenzen für schwere Schlafstörungen im Säuglingsalter (0–12 Monate) gemäß der International Classification of Sleep Disorders (ICSD, 1990) lagen bei 6,2 %, in einer schwedischen Stichprobe (Thunstrom, 1999) und bei 10 % für eine US-amerikanische Stichprobe (0–36 Monate) (Byars, Yolton, Rausch, Lanphear, & Beebe, 2012). Andererseits kann das nächtliche Erwachen eine massive Belastung für Kind und Familie darstellen. In diesem Fall hätte die Störung Krankheitswert, so dass als zusätzliches diagnostisches Kriterium die elterliche Belastung hinzukommen muss.

      2.4 Verlauf und Folgen von Schlafstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter

      In einer Studie von Goodlin-Jones et al. (2009) hatten 29 % der untersuchten Kinder vorübergehende (bei einem oder zwei Terminen) und nur 2 % persistierende, schwere Einschlafstörungen (bei drei oder mehr Terminen). Ähnlich verhielt es sich in Bezug auf die Durchschlafstörungen. Während 33 % aller Kinder intermittierende Durchschlafstörungen aufwiesen, waren die Probleme nur bei 3 % der Kinder persistierend. Aus diesen Ergebnissen kann gefolgert werden, dass bei einem erheblichen Anteil der Säuglinge und Kleinkinder die Symptomatik fluktuierend und nur von kürzerer Dauer ist, während bei einer kleinen Subgruppe die Störung persistierend verläuft. Cook et al. (2020) fanden jedoch deutlich höhere Prävalenzzahlen für persistierende Schlafstörungen im ersten Lebensjahr. Bei 19,4 % der untersuchten Kinder waren die Schlafstörungen sehr stark ausgeprägt und persistierten über das gesamte erste Lebensjahr hinweg. Solche schweren persistierenden Schlafstörungen waren sowohl mit präpartalen als auch mit postpartalen mütterlichen Depressionen, Ängsten und mit häuslicher Gewalt assoziiert.

      Zu beachten ist aber auch, dass Schlafstörungen einen Risikofaktor für weitere psychische Auffälligkeiten sind – sowohl internalisierender wie externalisierender Art (Reid, Hong, & Wade, 2009). Die Autorinnen erforschten an einer kanadischen Stichprobe von 2–3-Jährigen, welche longitudinal bis zum Alter von 6 Jahren untersucht wurden, den Zusammenhang zwischen Schlafproblemen und Verhaltensauffälligkeiten. Kleinkinder, welche mit 2 bis 3 Jahren Ein- und Durchschlafprobleme hatten, wiesen auch häufiger internalisierende und externalisierende Verhaltensprobleme im Verlauf des Vorschulalters auf. In einer prospektiven Längsschnittstudie fanden Sadeh et al. (2015), dass eine geringe Schlafqualität mit 12 Monaten dabei deutlich mit einer beeinträchtigten Aufmerksamkeitssteuerung und Verhaltensproblemen im Alter von 3–4 Jahren assoziiert war. Auch in einer Studie von El-Sheikh et al. (2007) waren Schlafstörungen mit emotionalen und Verhaltensproblemen (internalisierenden als auch externalisierenden Störungen) assoziiert, jedoch waren diese Zusammenhänge für die internalisierenden Störungen stärker ausgeprägt. Dabei waren Schlafqualität und -dauer sowohl in Bezug auf die Einschätzungen der Eltern als auch der Lehrerinnen hinsichtlich kindlicher Verhaltensauffälligkeiten, aber auch kognitiver Leistungsfähigkeit prädiktiv.

      Bei Schulkindern zeigten sich infolge von experimentell induzierten Schlafdefiziten deutlich erhöhte Konzentrationsprobleme und eine Reduktion der kognitiven Leistungsfähigkeit (Fallone, Acebo, Seifer, & Carskadon, 2005; Sadeh, Gruber, & Raviv, 2003). In einer Studie von Cao et al. (2018) wiesen 3–6-jährige Kinder mit Schlafstörungen ein deutlich höheres Risiko für ADHS Symptome (image Kap. 3, Komorbiditäten). Eine verzögerte Bettgehzeit (OR = 2.50), verlängerte Einschlaflatenzen (OR = 1.76), kein Mittagsschlaf (OR = 1.57) und Schlafstörungen gesamt (OR = 4.57) waren deutlich mit der Wahrscheinlichkeit assoziiert, dass ein Kind ADHS Symptome aufwies. Andersherum reduzierte eine längere Gesamtschlafdauer nachts (> 8.5 h) das Risiko für ADHS Symptome (OR = 0.76).

      Neben den langfristigen Auswirkungen, welche Schlafstörungen auf das Verhalten eines Kindes haben können, muss auch beachtet werden, dass schwerwiegende Schlafstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter oftmals mit einer erheblichen Belastung der Eltern einhergehen (Honaker & Meltzer, 2016). Insbesondere wenn schwere Schlafstörungen nicht behandelt werden,