Название | Psychische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern |
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Автор произведения | Margarete Bolten |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783170362925 |
Auch aufgrund der hohen Entwicklungsabhängigkeit der Symptomatik schwanken die Prävalenzzahlen für das exzessive Schreien sehr stark – je nach Alter der untersuchten Säuglinge. So fanden von Kries et al. (2006), dass von den untersuchten Säuglingen zwar 16,3 % innerhalb der ersten drei Lebensmonate exzessiv schrien, aber nur 5,8 % über den dritten und 2,5 % über den sechsten Lebensmonat hinaus. Olsen et al. (2019) untersuchten in einer dänischen Studie, die Häufigkeit von Komorbiditäten zwischen den drei Störungen Schrei-, Schlaf- und Fütterungstörungen in einer populationsbasierten Stichprobe von 2 598 Säuglingen im Alter von 2–6 Monaten. Sie fanden dabei Prävalenzzahlen von 2.9 % (zwei Symptombereiche) und 8.6 % (drei Symptombereiche). Geringe mütterliche Schulbildung und ein Migrationshintergrund waren dabei die Hauptprädiktoren für das Persistieren der Regulationsproblematik. Wolke, Bilgin und Samara (2017) verglichen in ihrem systematischen Review Daten aus insgesamt 28 Studien und fanden keine statistische Evidenz für einen »universalen« Gipfel der Gesamtschreidauer mit ca. 6 Wochen, obwohl ein leichter Anstieg des Schreiens über die ersten 5–6 Wochen über alle Studien hinweg beobachtet werden konnte. Dagegen war die Abnahme der Schreidauer zum Ende der ersten 3 Lebensmonate in allen untersuchten Studien deutlich erkennbar. Die Autoren berichten von sehr unterschiedlichen Prävalenzen innerhalb der verschiedenen Länder und in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Säuglings. Die berichteten Zahlen lagen zwischen 2,1 % (5–6 Wochen, Japan) und 34.1 % (3–4 Wochen, Canada).
2.2 Verlauf und Folgen des Exzessiven Schreiens
Hemmi, Wolke und Schneider (2011) zeigten in einer Metaanalyse, dass Kinder mit persistierenden Schrei-, Schlaf- oder Fütterproblemen in der Kindheit häufiger Verhaltensprobleme haben. Die Metaanalyse stützt sich auf 22 Studien, die zwischen 1987 und 2006 durchgeführt wurden und bezog insgesamt ca. 17 000 Kinder in die Analyse ein. Die Autoren kommen zum Schluss, dass Babys mit Schrei-, Schlaf- oder Essproblemen, welche über die ersten drei Lebensmonate hinweg andauerten, ein deutlich höheres Risiko für spätere Verhaltensstörungen wie aggressives und destruktives Verhalten sowie Aufmerksamkeitsdefizite haben. Das Risiko war umso höher, je mehr Bereiche der Verhaltensregulation (Schreien, Schlafen, Füttern) betroffen waren. In einer prospektiven Studie mit 64 Säuglingen, die an exzessivem Schreien über den dritten Monat hinaus litten, entwickelten in den folgenden 8 Jahren 18,9 % starke und 45,3 % mäßige Hyperaktivitätssymptome mit sozialen Verhaltensstörungen (Wolke, Rizzo, & Woods, 2002). Die Eltern berichteten weiterhin, dass die persistierend schreienden Kinder in ihrer Emotionalität negativer, schwieriger und weniger anpassungsfähig waren. Auffallend sind auch die Parallelen zwischen der Möglichkeit, Kinder mit Regulationsstörungen durch Hyperstimulation zu beruhigen und der klinischen Beobachtung, dass ADHS Kinder oft stundenlang konzentriert am Computer spielen können, ohne dass sie als überstimuliert auffallen. Ob eine Kausalität besteht und wie sie sich entwickelt, bleibt jedoch unklar. Es kann aber angenommen werden, dass die Impuls-, Emotions- und Verhaltenskontrolle, welche eine zentrale Stellung bei den verschiedenen Störungen einnimmt, zu einem erheblichen Anteil durch die selbstregulatorischen Kompetenzen bestimmt wird. (Wolke, Schmid, Schreier, & Meyer, 2009) fanden außerdem, dass vermehrtes Schreien mit leichten kognitiven Entwicklungsdefiziten, erfasst mit der Columbia Mental Maturity Scale (CMMS), im Alter von 56 Monaten assoziiert waren. Diese Zusammenhänge waren besonders ausgeprägt, wenn mehrere regulative Bereiche (Schreien, Schlafen, Essen) betroffen waren. Dabei wurde sowohl das Ausmaß des Schreiens als auch die kognitive Leistungsfähigkeit durch die Gestationslänge, neonatale neurologische Komplikationen, beeinträchtige Eltern-Kind-Beziehungen und psychosoziale Probleme beeinflusst.
Dysregulierte kindliche Verhaltenszustände können auf Seiten der Eltern zu Erschöpfung, Schlafdeprivation, Ohnmachtsgefühlen und Versagensängsten führen. Auch Wut, Ablehnung, Selbstvorwürfe oder ängstliche Überfürsorglichkeit können die Folge sein. So fanden Vik et al. (2009) bei Müttern, deren Säuglinge im Alter von 2 Monaten exzessiv schrien nach weiteren 4 Monaten deutlich erhöhte mütterliche Depressionswerte. Chronische Unruhe und unstillbares Schreien wirken sich negativ auf die Beziehungsgestaltung zum Kind aus und gehen zunehmend auf Kosten entspannter Interaktionen zwischen Eltern und Säugling (Goodlin-Jones & Anders, 2001; Newnham, Milgrom, & Skouteris, 2009; Raiha, Lehtonen, Huhtala, Saleva, & Korvenranta, 2002). Belastungsfaktoren für die Eltern-Kind-Beziehung sind besonders dann kritisch, wenn infolge der überwiegenden negativen Interaktionen mit dem unstillbar schreienden Säugling und der erlebten Hilflosigkeit durch die Eltern, die intuitive elterliche Kompetenz beeinträchtigt wird und damit das Handeln der Eltern nicht mehr auf die kindlichen Bedürfnisse abgestimmt ist. Dies wiederum hat zur Folge, dass der Säugling zunehmend weniger ko-regulatorische Unterstützung durch seine Eltern erfährt. Es sind wiederholt dysfunktionale Interaktionen zwischen Eltern und Kind zu beobachten, die von einer hohen negativen Gegenseitigkeit geprägt sind, was wiederum zu einer tiefgreifenden Ablehnung, Vernachlässigung oder sogar Misshandlung des Kindes (»Shaken-Baby-Syndrome«) führen kann (Barr, Paterson, MacMartin, Lehtonen, & Young, 2005; Talvik, Alexander, & Talvik, 2008). Je länger eine solche dysfunktionale Wechselseitigkeit aufrechterhalten wird, umso mehr können sich bestimmte Interaktionsmuster verselbstständigen, rigide werden und die Entwicklung langfristig gefährden. Unstillbares Schreien und die daraus resultierende chronische Stressbelastung, kann sich aber auch negativ auf die Partnerschaft auswirken und damit Beziehungskonflikte hervorrufen (Meijer & van den Wittenboer, 2007; Papousek & von Hofacker, 1998; Wake et al., 2006).
Eine der gravierendsten bzw. für die Gesundheit des Kindes gefährlichsten Folgen des exzessiven Schreiens, ist das sogenannte Schütteltrauma (»Shaken-Baby-Syndrom«). Besonders Kinder, deren Eltern psychisch stark belastet sind oder Zwillinge sind, haben ein erhöhtes Risiko, geschüttelt zu werden (Talvik et al., 2008).
Merke
Das Schütteltrauma ist eine spezielle Form der Kindesmisshandlung, in deren Folge durch ein stumpfes Trauma und/oder durch heftiges Schütteln es zu Schädigungen an Schädelknochen, Gehirn und Rückenmark kommt (Narang, Fingarson, Lukefahr, Council On Child, & Neglect, 2020). Häufig kommt es zu intrakraniellen Verletzungen, die mitunter zu einer Gehirnschädigung führen können. Treten subdurale sowie retinale Blutungen in Kombination mit einer akuten Enzephalopathie auf, wird dies als »Shaken-Baby-Syndrom« oder »Abusive Head Trauma« genannt.
Ein Schütteltrauma tritt meist bei sehr jungen Kindern auf und beruht vor allem auf zwei Umständen:
1. Das Schütteln eines Kindes wird vorrangig durch Phasen intensiven Schreiens getriggert.
2. Die Verletzungsfolgen durch das Schütteln sind bei Säuglingen aufgrund der Größen- und Gewichtsrelation des Kopfs zum Körper sowie der geringeren Kopfkontrolle wahrscheinlicher als bei älteren Kindern.
Die Symptome eines Schütteltrauma variieren je nach Ausmaß und Art der Gewalt stark. Sie können von einer leichten Schädelprellung bis hin zu einer schweren diffusen Hirnschädigung mit akuter Enzephalopathie mit Todesfolge reichen. Äußerliche Verletzungszeichen fehlen auch bei einem schwerem Schütteltrauma häufig. Jedoch führt ein schweres Schütteltrauma in den meisten Fällen zu zentralneurologischen Phänomenen wie Bewusstlosigkeit und Krampfanfällen. Säuglinge und Kleinkinder fallen zunächst durch ausgeprägte Schläfrigkeit oder Unruhe, Trinkunlust, reduzierte Spontanmotorik, verlangsamte Reagibilität sowie vegetative Symptome wie Temperaturregulationsstörungen auf. Es können aber auch periphere Lähmungen oder Augenbewegungsstörungen auftreten.
Fallbeispiel
Tom wird zusammen mit seiner Mutter durch den Notarzt in die Universitätskinderklinik eingewiesen. Die Nachbarn hatten die Polizei gerufen, nachdem es in der Wohnung mitten in der Nacht sehr viel Geschrei und Weinen der drei Kinder gegeben hatte. Auf der Notfallstation präsentiert sich der 9 Monate alte Säugling in schläfrigem Zustand und mit wiederholtem Erbrechen. Eine Schädelsonographie zeigt eine