Название | Das Anthropozän lernen und lehren |
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Автор произведения | Группа авторов |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Pädagogik für Niederösterreich |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783706560832 |
Wie weit sich der Zustand des neuen Erdsystems von dem des Holozäns entfernt, wird von unserem zukünftigen Handeln abhängen (Steffen et al. 2016, 2018, 2020). Hierbei geht es vor allem um die Beherrschbarkeit und Anpassungsfähigkeit der Menschheit an die neuen Bedingungen unter Wahrung freiheitlicher Entwicklungsmöglichkeiten der Gesellschaften. Daher macht es einen immensen Unterschied für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaften, ob planetarische Grenzen (Abb. 3), wie etwa die 2°C-Leitplanke, eingehalten werden oder nicht.
Um die menschlichen Eingriffe und die damit verbundene Umweltproblematik zu erfassen, ist es sinnvoll, die Problemkreise zuerst sektoral zu analysieren. Hierbei geht es insbesondere um das Ausmaß der Quantitäten und um die Frage, wie weit man sich jeweils planetarischer Stabilitätsgrenzen (Rockström et al. 2009, Steffen et al. 2015a) angenähert oder diese sogar schon überschritten hat (Abb. 1, Abb. 3). Von besonderer Bedeutung ist dabei auch die „Große Beschleunigung“, der erdsystemare Sektoren durch die entsprechende Akzeleration sozioökonomischer menschlicher Aktivitäten seit den 1950er-Jahren unterliegen (Steffen et al. 2015b). Diese immensen Beschleunigungen hebeln die natürliche Anpassungsfähigkeit der belebten sowie der unbelebten Umwelt aus und lassen damit auch keinen „Trost“ durch die Daten der Erdgeschichte zu (siehe Abschnitt 1). Insgesamt stellt sich zudem die schwierige wissenschaftliche Frage nach den Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Problemsektoren und damit auch des Verhaltens von Kippelementen (Lenton et al. 2008, Steffen et al. 2018) (Abb. 4).
Abbildung 3: Planetarische Grenzen mit Hervorhebung des Anteils des Ernährungssektors. Planetarische Grenzen nach Steffen et al. (2015a), vereinfacht, Ernährungssektor sowie Ergänzung des Aerosol-Sektors nach Meier (2017)
Wie wird die Menschheit nun auch zur geologischen Kraft? Dies untersucht die geologisch-stratigraphische Ebene des Anthropozän-Konzepts. Ein Blick auf den historischen Ablauf ist erhellend. Natürlich haben sich die erdsystemaren Einflüsse durch die Menschheit graduell aufgebaut (vgl. Williams et al. 2016, Zalasiewicz et al. 2019a): So war bereits der frühe Mensch, wie auch jeder andere Organismus, ein biologischer Faktor, denn schon allein durch seinen Stoffwechsel war er in die Erdsystemkreisläufe integriert und hat sie – wenn auch in sehr kleinem Umfang – mit beeinflusst. Sobald jedoch Werkzeuge wie Faustkeile und Speere sowie der Gebrauch des Feuers dazukamen, war der Einfluss möglicherweise schon so groß, dass das Aussterben von Großsäugetieren zu und nach Ende der letzten Eiszeiten schon durch ihn mitbedingt war. Als sich Menschen in der Neolithischen Revolution niederließen und Ackerbau, Viehzucht und Vorratshaltung betrieben, waren die Einflüsse durch die Landnutzung, ggf. auch auf die Atmosphäre (etwa rodungs- und reisanbaubedingte Entwicklung von Treibhausgasen), bereits deutlich höher – der Mensch wurde zum „geographischen Faktor“. Eine Hypothese besagt, dass die Eroberung Amerikas durch Europäer, welche mit dem Einschleppen von Krankheiten und der Ermordung großer Teile der indigenen Bevölkerung einherging, zu einer vorübergehenden natürlichen Wiederbewaldung früher gerodeter Gebiete und damit zu mehr Kohlenstoffspeichern führte, was als kleiner atmosphärischer CO2-Rückgang in Eiskernen messbar sei (Ruddimann et al. 2016, Ruddimann 2018, siehe jedoch Zalasiewicz et al. 2019b). Dies kehrte sich wieder um, als Jagd und Fallenstellerei der ersten europäischen Siedler durch immer mehr Ackerbau und Viehzucht ersetzt wurden und dazu auch diese regenerierten Urwälder wieder abgeholzt wurden. Aber erst durch die Optimierung der Dampfmaschine durch James Watt Ende des 18. Jahrhunderts startete die Industrialisierung voll durch: Bergbau wurde großmaßstäblich möglich, zur Eisenverhüttung wurden weitere Wälder gerodet, später kam Kohle dazu, auf landwirtschaftlichen Flächen in den USA wurde auf riesigen Flächen Baumwolle angebaut, wozu Bäche und Flüsse reguliert wurden, um ganzjährig bewässern zu können und mechanische Webstühle anzutreiben. Eisenbahn- und Handelsschifffahrt wurden mit Dampfmaschinen betrieben und sehr rasch ausgebaut, die Industrialisierung beschleunigte sich in allen Bereichen immens (siehe Abschnitte 3.1.3, 3.2.2). Damit vergrößerte sich nicht nur die „geographische Kraft“ der Menschheit (vgl. ArchaeoGlobe Project 2019) – die Ausweitung der Industrialisierung legte auch die Grundlagen dafür, dass der Mensch zunehmend zur erdsystemaren Kraft wurde. Es dauerte aber noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, bis sich – insbesondere auch durch die Nutzung von Erdöl und Erdgas – diese Prozesse so beschleunigten, dass in allen Erdsystemsphären, darunter auch der Lithosphäre, neue Geosignale dauerhaft überliefert wurden. Die „Große Beschleunigung“ machte die Menschheit damit nicht nur zum „erdsystemaren Faktor“, sondern eben auch zum „geologischen Faktor“.
Abbildung 4: Geographische Einordnung der wichtigsten Kippelemente im Erdsystem. Die Kippelemente lassen sich in drei Klassen einteilen: Eiskörper, sich verändernde Strömungs- bzw. Zirkulationssysteme der Ozeane und der Atmosphäre und bedrohte Ökosysteme von überregionaler Bedeutung. Fragezeichen kennzeichnen Systeme, deren Status als Kippelement wissenschaftlich noch nicht gesichert ist. Quelle: PIK https://www.pik-potsdam.de/services/infothek/kippelemente, Creative Commons BY-ND 3.0 DE Lizenz
Tatsächlich werden alle geschilderten Bespiele von unterschiedlichen Wissenschaftsgruppen als jeweils möglicher Beginn des Anthropozäns diskutiert. Die formal zur Untersuchung beauftragte und sehr interdisziplinär zusammengesetzte Anthropocene Working Group (AWG) der International Stratigraphic Commission9 empfiehlt allerdings mit weit überwiegender Mehrheit, die Untergrenze in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu legen. Dafür spricht insbesondere Folgendes:
• In den Sedimenten aller Ablagerungsbereiche (darunter Tiefsee, Flachmeere, Korallenriffe, Küsten, Flussmündungen, Seen, Böden), aber z.T. auch in Tropfsteinen und Baumringen finden sich ab dieser Zeit eindeutige, weitverbreitete und meist dauerhaft überlieferbare „Technofossilien“ bzw. weitere Geosignale. Dazu gehören Fragmente von Beton, elementarem Aluminium, Plastik, Flugasche aus industriellen Hochtemperaturprozessen, radioaktive Niederschläge aus Atombombenversuchen, Schwermetalle wie Blei, aber auch Pestizide und andere chemische Substanzen sowie Isotopensignal-basierte und direkte Messung atmosphärischer Gehalte an Kohlendioxid, Methan und Stickoxiden im Eis bzw. Gasblasen von Eiskernen (Waters et al. 2016, 2018, Zalasiewicz et al. 2016, 2017a, 2019a).
• Diese Signale ermöglichen eine sehr exakte globale synchrone Grenzziehung, so dass die Prämissen der Stratigraphischen Kommission zur Einrichtung erdgeschichtlicher Einheiten, die dann im Sinne eines Best-Practice-Verfahrens von der geowissenschaftlichen Community weltweit gleich verwendet werden, gegeben sind10.
• Durch eine derartige isochrone Definition des Anthropozäns ist dessen Anbindung an historische und archäologische Archive möglich, so dass etwa Historiker/innen zusätzliche, nicht durch Menschen eingerichtete Sedimentarchive mit ihren eigenen