RHI Zukunftsnavigator 2021: In Deutschland neu denken. Группа авторов

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Journalismus, Wirtschaft, Politik, die sich schon heute dem Thema »Verschwörungsmythen« stellen. Darunter viele Personen, die dies in ihrer Freizeit tun, unentgeltlich oder für sehr wenig Geld und – weil sie in den Fokus bestimmter Verschwörungsideolog*innen und deren Anhänger geraten – vermehrt auch unter persönlicher Bedrohung. Wir müssen uns überlegen, wie wir diese Menschen besser schützen können. Wie auch in anderen Bereichen, zum Beispiel der Rassismusbekämpfung oder dem Kampf gegen Antisemitismus, stellt sich die Frage, welchen Preis Menschen bereit sein sollen, freiwillig zu zahlen, um sich füreinander und gegen antidemokratische Meinungsmache einzusetzen. Wer Angst haben muss, die eigenen Partner*innen oder Kinder zu gefährden oder dass die eigene Adresse aufgrund der aktuellen Impressumspflicht in die falschen Hände fällt, überlegt es sich in Zukunft vielleicht zweimal, ob sich der eigene Einsatz wirklich lohnt. So weit dürfen wir es nicht kommen lassen.

      Giulia Silberberger vom Goldenen Aluhut, einer gemeinnützigen Organisation, die sich seit Jahren mit dem Monitoring verschwörungsideologischer Inhalte beschäftigt, wünscht sich mehr Grundlagenforschung und vor allem auch einen ganzheitlichen Ansatz zu diesem Thema: »Wir müssten alle Berufsgruppen besser vernetzen, um Erkenntnisse aufeinander aufzubauen und miteinander die richtigen Ansätze zu finden und zu entwickeln. Dafür braucht es gesicherte Finanzierung für die Beforschung dieser Szenen, die Auswertungen und das Monitoring. Genauso benötigen wir auch Pädagogen, die anhand dieser Forschung eigene medienpädagogische Angebote für unterschiedliche Zielgruppen entwickeln. Nur wenn wir die Grundlagen des Verschwörungsglaubens verstehen, können wir für Menschen Alternativangebote schaffen und sie dort abholen, wo sie stehen.«

      Genauso wenig wie wir von allen Bürgerinnen und Bürgern eine ständige automatische Weiterentwicklung in technologischer Hinsicht erwarten können, müssen wir begreifen, dass demokratische (Weiter-)Bildung auch jenseits der Schule gefragt ist. Und zwar dort, wo Erwachsene sich aufhalten: in Vereinen, im Job, an den Hochschulen et cetera. Es ist einerseits Aufgabe des Staates, deutlich mehr Finanzierung in Projekte, Programme, medizinische und faktenbasierte Aufklärung zu lenken und so die Bekämpfung von verschwörungsideologischen Inhalten aus der finanziell prekären Nische zu holen. Ebenso sind Politikerinnen und Politiker gefragt, hier kluge Ansätze zu entwickeln, gute Programmförderung aufzubauen, unsere Gesetzgebung auf verschwörungsideologische Lücken hin zu überprüfen und angesichts Zehntausender Menschen, die gegen Corona-Maßnahmen demonstrieren, neue Ansätze für unser Bildungssystem zu entwickeln.

      Die Verantwortung für das Thema liegt aber andererseits genauso bei Wirtschaftsunternehmen, die davon profitieren, in einem demokratisch befriedeten und stabilen Land ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten ausüben zu können. Auch sie können zu der Bekämpfung ihren Teil beitragen. So sollten wir über Demokratie-Siegel für Unternehmen nachdenken, Antiverschwörungsformate für Mitarbeitende, aber auch für CEOs, die sich gegen Verschwörungsmythen einsetzen wollen, oder auch verpflichtende Antiverschwörungsideologie-Schulungen für interne Kommunikationsverantwortliche und Social-Media-Manager*innen – auch für betriebsinterne Intranets. Vereine könnten Klauseln gegen derartige Inhalte in ihre Satzungen aufnehmen, um diejenigen zu ahnden, die sie verbreiten. So wie jeder in Deutschland laut Grundgesetz seine freie Meinung äußern darf, haben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch das Recht, am Arbeitsplatz nicht mit verschwörungsideologischen Thesen konfrontiert zu werden. Weshalb Betriebsräte zu diesen Themen in Zukunft stärker gefragt sind und damit der Schulungsbedarf hier höher sein dürfte. Gerade weil verschwörungsideologische Inhalte sich oft politisch gegen marginalisierte Gruppen richten und menschenfeindliche Thesen beinhalten, haben Unternehmen die Pflicht, präventiv gegen möglicherweise daraus resultierende Diskriminierungen vorzugehen. Und in Pandemie-Zeiten ist es ebenso wichtig, potenziell gesundheitsgefährdende Theorien zu unterbinden und in unternehmenseigenen Bereichen eigene Ansätze dagegen zu entwickeln.

      Ich hatte Glück: Meine Corona-Infektion verlief, wie man so schön sagt, »mittelschwer«, ohne Krankenhausaufenthalt, nach vier Wochen konnte ich wieder arbeiten gehen. Nicht allen geht es so – und auch wenn ich meine Geschichte erzähle, sind viele baff, da sie wirklich davon ausgehen, dass es sich bei dieser Krankheit höchstens um eine symptomlose Grippe handelt. Es sollte in unser aller Interesse liegen, Falschmeldungen und Verschwörungsmythen, die diese Pandemie verharmlosen oder ganz grundsätzlich Menschenleben gefährden, zu unterbinden. Nicht nur, weil ganz offensichtlich Tausende bereit sind, Seite an Seite mit Rechtsextremisten zu demonstrieren. Aber eben auch und gerade deshalb. Ich schlage vor: Fangen wir an. Mit besserer Finanzierung, einem Ausbau der Beratungsangebote, konkreter Vernetzung, mit aktiver Prävention, neuen Bekämpfungsansätzen und einem »Endlich raus aus der Nische«. Noch können wir verhindern, dass verschwörungsideologische Inhalte unsere Demokratie langfristig gefährden oder gar beschädigen. Wir müssen es aber jetzt endlich angehen.

      Anmerkungen

      1 Vgl. Katharina Nocun/Pia Lamberty: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen. Köln 2020, S. 25. Siehe dazu auch: Jonas Rees/Pia Lamberty: »Mitreißende Wahrheiten: Verschwörungsmythen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhang«. In: Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan: Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2019, www.fes.de/mitte-studie

      2 Vgl. Franzi von Kempis: Anleitung zum Widerspruch, S. 108, 109.

      3 Vgl. Franzi von Kempis: Anleitung zum Widerspruch, S. 100–104.

      4 Siehe dazu auch: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Fallzahlen.html

      5 Siehe dazu auch: Franzi von Kempis: Anleitung zum Widerspruch, S. 101–103.

      6 Vgl. zu diesem Absatz auch: »Was Facebook gegen Antisemitismus tut – und was nicht«, https://www.br.de/nachrichten/netzwelt/was-facebook-gegen-antisemitismus-tut-und-was-nicht,S8HzFGn, abgerufen am 3.9.2020. »Facebook blockiert Gruppen von ›QAnon‹-Verschwörungstheoretikern«, https://www.wiwo.de/social-media-facebook-blockiert-gruppen-von-qanon-verschwoerungstheoretikern/26111218.html, abgerufen am 3.9.2020.

      7 Vgl. »Datenanalyse: Nutzer finden fragwürdige Corona-Informationen vor allem