RHI Zukunftsnavigator 2021: In Deutschland neu denken. Группа авторов

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verunsichern und vor welche Herausforderungen mich ganz persönlich eine Zeit stellen würde, in der wenig als sicher gilt. Ganz sicher hätte ich nicht gedacht, dass in meiner Heimatstadt Berlin mehrere Zehntausend Corona-Leugnerinnen und -Leugner auf die Straße gehen würden. Und dass dies nicht die ersten und vielleicht auch nicht die letzten Demonstrationen ihrer Art sein würden, bei denen Menschen Plakate mit Verschwörungsmythen, antisemitischen Inhalten und rechtsextremem Gedankengut in die Luft halten, sich weigern, Masken zu tragen und den Mindestabstand einzuhalten, während sie lautstark gegen die angebliche Corona-Verschwörungslüge skandieren und den Irrglauben verbreiten, Covid-19 sei ein Hoax, den ihnen »die da oben« vorgaukeln wollen. Denn was Corona-Leugner, Rechtsextremisten und Maskenverweigerer eint? Verschwörungsmythen.

      Wir befinden uns in einer einmaligen Situation. Eine globale Pandemie und ihre Bekämpfung stellen unser gewohntes Leben infrage, gefährden Menschenleben und wirtschaftlichen Wohlstand. Der beste Weg aus der Krise hinaus muss erst noch gefunden werden – dabei können wir Irr- und Umwege nicht ausschließen. Wie auch? Das verunsichert, macht Angst, weckt Bedrohungsgefühle. Aus der Wissenschaft wissen wir, dass Menschen in Krisenzeiten dazu neigen, Verschwörungserzählungen eher zu glauben als in normalen Zeiten. Denn: Sie liefern einfache Erklärungen für ungemein komplexe Situationen. Sie simulieren Antworten, wo Politiker*innen, Wissenschaftler*innen, Arbeitgeber*innen und viele weitere erst Lösungen suchen, diese manchmal auch wieder verwerfen und neu aufsetzen müssen. Und während die Welt einen Ausweg aus der Corona-Krise sucht, gefährden Menschen, die Verschwörungserzählungen rund um eine mögliche Impfung und »die da oben« und ein angeblich »nicht vorhandenes« Virus verbreiten, unsere wehrhafte Demokratie.

      Wir brauchen einen Aktionsplan, um als Gesellschaft gegen diese Mythen vorzugehen, wir brauchen neue Ansätze, um Corona-Verschwörungserzählungen vorzubeugen, und wir müssen mehr Angebote entwickeln, um über diese aufzuklären und eine Gegenerzählung zu schaffen. Das Thema war lange Zeit ein Nischenthema, ob in Forschung, politischer Programmförderung oder in der Mitarbeiterentwicklung bei Unternehmen. Jetzt ist es an der Zeit, aus der Nische herauszutreten und Programm zu machen.

      1. Wir müssen die Hintergründe und Zusammenhänge verstehen

      Auf was zielen solche Erzählungen ab? Sie sollen möglichst einfache Antworten auf unübersichtliche, komplizierte Probleme und Situationen geben. Sie produzieren klare Feindbilder und einfache Erklärungen für komplexe Zusammenhänge. Sie erklären komplizierteste gesellschaftliche, politische oder wirtschaftliche Probleme oder eben eine globale Pandemie lückenlos und präsentieren dabei einen oder gleich mehrere vermeintliche Schuldige. Wer daran glaubt, sammelt alles, was das eigene Weltbild stützt. Was nicht passt: wird weggelassen. Sachliche Argumente kritischer Stimmen werden dabei angezweifelt oder geleugnet. Deshalb ist auch der oft genutzte Begriff »VerschwörungsTHEORIE« mit Vorsicht zu gebrauchen. Theorien sind wissenschaftliche Erklärungen, den Begriff »Verschwörungstheorien« zu nutzen suggeriert also, man befinde sich in der Diskussion mit »Verschwörungstheoretiker*innen« auf wissenschaftlichem Boden. Die Psychologin Pia Lamberty, Co-Autorin des Buches Fake facts, nennt die Bezeichnung »Verschwörungstheorie« sogar irreführend: »Eine Theorie lässt sich wissenschaftlich an der Welt testen. Das passiert hier ja eben nicht, weil sich diese Theorien wissenschaftlichen Kriterien von Widerlegbarkeit entziehen.« Und schlägt stattdessen zwei andere Begriffe vor: »Zum einen den Verschwörungsmythos, also ein abstraktes Narrativ, das bereits lange existiert und modifiziert immer wieder erscheint – etwa die jüdische Weltverschwörung. Zum anderen die Verschwörungserzählung, also eine konkrete Verschwörungsgeschichte, die sich häufig aus einem älteren Verschwörungsmythos speist – also etwa Verschwörungsgeschichten um Prinzessin Diana.« Zudem spricht Lamberty »von einer Verschwörungsmentalität, die wir als generelles Misstrauen gegenüber als mächtig wahrgenommenen Personen beschreiben.«

      2. Wir müssen widersprechen (lernen)

      Corona-Verschwörungsmythen tauchen überall auf: In Familien-Whats-App-Chats, im Kolleg*innenkreis, in den Kommentarspalten unter Videos und Artikeln. Und weil sie eben überall auftauchen, muss es auch überall Menschen geben, die solchen Falschmeldungen widersprechen, antidemokratischen und antisemitischen Inhalten Einhalt gebieten und »Stopp« sagen. Wir müssen dabei bei denen ansetzen, bei denen das Weltbild noch nicht verfestigt ist – denn ab einem bestimmten Punkt werden Menschen immer schwerer erreichbar. Das ist im eigenen Familien- und Bekanntenkreis natürlich einfacher: Wir sind einander verbunden, man will sich nicht verlieren. Offen auf jemanden zugehen, Menschen nicht abwerten und alleine lassen, gerade in der unsicheren Situation, in der wir uns gemeinsam befinden. Was hilft: nachfragen, sich erkundigen, warum die Person aus dem eigenen Umfeld genau dieser Verschwörungserzählung glaubt. Dissonanzen aufzeigen, Unregelmäßigkeiten erklären. Hinterfragen, woher die Quellen für die Erzählung stammen. Und manchmal gilt es dabei auch, krude Theorien auszuhalten. Denn man muss sich auch die Frage stellen, ob reines Fakten-Gegenschleudern wirklich etwas bringt. Warum sollte ich dem Tagesschau-Artikel vertrauen, wenn ich nicht an die Lügenpresse glaube? Warum sollte ich staatlichen Statistiken glauben, wenn ich der Regierung