Der Dreißigjährige Krieg. Peter H. Wilson

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Название Der Dreißigjährige Krieg
Автор произведения Peter H. Wilson
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783806241372



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2) hatte diese herrschaftlichen Dienstansprüche bis etwa 1570 noch gestärkt, denn nun konnten die Landesherren ihre Untertanen auch mobilisieren, um das Reichsrecht zu wahren und das Reich zu verteidigen. Allerdings äußerten die Stände in den einzelnen Territorien starke Zweifel daran, dass die entsprechenden Befugnisse auch zur Verpflichtung der Untertanen zu Angriffskriegen gebraucht werden durften, und weigerten sich in der Regel, für derartige Ansinnen Steuern zu bewilligen.113 Die Fürsten sahen die neue Miliz als eine Möglichkeit an, die Autorität über ihre Untertanen zu stärken und auszuweiten, und glaubten, dass das regelmäßige Exerzieren einen gesellschaftlichen Wandel vorantreiben werde – und zwar ganz im Sinne des Disziplinierungs- und Moralisierungsdrangs, der durch die Konfessionalisierung spürbar wurde. Wie deren Maßnahmen hing allerdings auch die erfolgreiche Einführung des Landesdefensionswesens von einem ganzen Netzwerk aus Gemeindeseelsorgern, Dorfvorstehern und grundherrlichen Vögten ab. Die Landesfürsten stießen dabei nicht selten auf den Widerstand ihres Territorialadels, der „seine“ Pachtbauern nicht zum Dienst in der Auswahl hergeben wollte. Das Ergebnis war ein Kompromiss, weil die Umsetzung der Reformen zumindest teilweise von der Bereitschaft der Stände abhing, die Ausbilder und Waffen zu bezahlen sowie Bier und andere Anreize zur Verfügung zu stellen, damit die Rekruten auch zum Training erschienen. In Brandenburg beschränkte sich das Milizwesen auf jene Städte, die unmittelbar dem Kurfürsten unterstanden, während von den rund 93 000 als tauglich gemusterten Untertanen des sächsischen Kurfürsten gerade einmal 9664 verpflichtet wurden – unter den 47 000 Tauglichen aus den Territorien der Reichsritterschaft wurden sogar nur 1500 Pioniere ausgehoben. Die Angehörigen des Adels konnten dem System jedoch nicht ganz entgehen, da zu ihren Lehnspflichten auch die Leistung von Militärdienst zählte. Diese traditionsreichen persönlichen Verpflichtungen wurden nun in das neue Landesdefensionswesen eingegliedert, indem man aus dem adligen Heerbann einfach Kavallerieeinheiten bildete. Die kursächsische Ritterschaft wurde zur Stellung von zwei Regimentern mit insgesamt 1593 Mann verpflichtet, während andernorts der Anteil des Adels an der Streitmacht in der Regel etwa zehn Prozent betrug. Generell wurde etwa einer von zehn tauglichen Männern zum Milizdienst herangezogen, das entsprach etwa 2,5 Prozent der Gesamtbevölkerung.114

      Die Milizen sollten reguläre Truppen keineswegs in der Schlacht ersetzen, wie mancher spätere Historiker spekuliert hat. Stattdessen sollten sie eine Art von militärischer Erster Hilfe leisten und ihre Dörfer und Städte gegen Eindringlinge und Marodeure verteidigen sowie bei Bedarf die Besatzung strategisch wichtiger Festungen verstärken. Letzterer Aspekt erwies sich als das Kostspieligste an dem neuen System überhaupt, da die Landesfürsten nun begannen, neue Verteidigungsanlagen nach niederländischem Vorbild errichten zu lassen, oder bestehende Befestigungen auf den neuesten Stand bringen ließen. Vor allem die Kurpfalz, deren Landesfürst wegen der Verstreutheit und Verwundbarkeit seiner Territorien ein ambitioniertes Festungsbauprogramm auflegte, stach in dieser Hinsicht hervor. So wurde zwischen 1606 und 1622 Mannheim um ein älteres Dorf herum erbaut, inklusive einer Zitadelle mit sieben Bastionen (der Friedrichsburg) sowie sternförmigen Befestigungsanlagen nach neuestem Standard (mit sechs Bastionen und zwei Halbbastionen) für die eigentliche Stadt. Eine weitere Festung wurde 1608 in Frankenthal errichtet und 1620/21 verstärkt; das bereits bestehende Heidelberger Schloss wurde ebenfalls erweitert. Im Allgemeinen unterhielten die Landesherren kleine Kontingente von Berufssoldaten als Leibwachen und Garnisonen. Es war ebendiese Kombination von Milizen, Festungen und kleinen, hochprofessionalisierten Leibwachen, die die Grundlage der Militärorganisation in den deutschen Territorien um 1600 bildete.

      Man sieht leicht, warum die Stände den Beteuerungen ihrer Landesfürsten, dies alles seien reine Defensivmaßnahmen, von Anfang an misstrauten. Schließlich konnten die Berufssoldaten auch eingesetzt werden, um die Schlagkraft der Milizen im Feld zu erhöhen. Die Untertanen sahen das regelmäßige Exerzieren als eine weitere lästige Pflicht an, die sie neben immer umfangreicheren sonstigen Diensten nun eben auch noch erfüllen sollten; und die Saufgelage, die mit dem Training nicht selten einhergingen, widerlegten schon bald die Vorhersagen der Theoretiker, der militärische Drill werde gleichsam automatisch in christliche Moralvorstellungen einmünden. Die brandenburgischen Städte überzeugten ihren Kurfürsten 1610, den Milizdienst wieder abzuschaffen und zu der vorherigen Sitte zurückzukehren, nach welcher der Kurfürst Soldaten zu seiner Unterstützung dann anwarb, wenn er sie brauchte. Solche Rückschläge verlangsamten die Umsetzung der Reformen im Reich als Ganzem; in der Kurpfalz seit 1577 bestehende Pläne waren erst 1600 vollständig umgesetzt, während die kursächsischen Stände die Aufstellung einer Miliz in ihrem Territorium bis 1613 herauszögerten.

      Die historische Bewertung all dieser Maßnahmen sowie der niederländischen Reformbemühungen überhaupt ist nicht selten dadurch getrübt worden, dass man – ohne Rücksicht auf Anachronismen – spätere Anliegen und Absichten dort hineinprojizierte, wo sie eigentlich noch gar nicht vermutet werden konnten. Konservative deutsche Historiker sahen das Landesdefensionswesen als Meilenstein auf dem Weg zu einer allgemeinen Wehrpflicht aus patriotischer Verpflichtung; als eine Errungenschaft, welche die politische Zersplitterung des Alten Reiches schließlich zunichtegemacht habe, weshalb die Fürsten nach 1618 gezwungenermaßen wieder auf Söldner hätten zurückgreifen müssen. Andere interpretierten die Milizen als Volksarmeen avant la lettre und wiesen darauf hin, dass Bauern sich die Milizstrukturen wiederholt bei ihren Aufständen zunutze machten. Keine dieser beiden Perspektiven enthält die ganze Wahrheit. Sowohl die Gilden der niederländischen schutters als auch das deutsche Milizwesen beruhten auf unverkennbar frühneuzeitlichen Rollenverständnissen: jene auf dem Selbstbild privilegierter Stadtbürger in einer dezentralisierten Republik, diese auf einer Verpflichtung von gehorsamen Untertanen ihres Landesherrn. Der niederländische Einfluss war ohnehin nur eine Quelle der deutschen Maßnahmen. Fabian von Dohna, der 1602 für die Heeresreform in Preußen verantwortlich zeichnete, hatte unter Moritz von Oranien gedient und zuvor bereits bei der Aufstellung der kurpfälzischen Miliz geholfen. Dennoch nannte man die Milizionäre in Preußen „Wibranzen“, nach dem polnischen Wort wybrańcy, was „die Erwählten“ bedeutet. Andernorts wurden die Reformen unter dem Eindruck der Türkengefahr nach 1593 begonnen. Außerdem begannen auch die katholischen Territorien, ihr traditionelles Landesaufgebot nach einem ähnlichen Muster neu zu organisieren, wobei sich insbesondere Bayern hervortat: Die hier 1593–1600 umgesetzten Maßnahmen brachten schließlich 22 000 Mann in 39 Land- und fünf Stadtregimentern zusammen.

      Viele der Ideen, die in der oranischen Heeresreform und dem deutschen Landesdefensionswesen umgesetzt werden sollten, waren hochtheoretisch und befassten sich mit komplizierten geometrischen Formationen ohne großen praktischen Nutzen. Und selbst diejenigen Reformvertreter, deren Herangehensweise eine praktischere war, stellten sich oft gegen den technischen Fortschritt: so Wallhausen, der den Niedergang der Lanze als Hauptwaffe der Reiterei bejammerte. In zahlreichen Punkten unterschieden sich die Methoden der Niederländer kaum von der Herangehensweise ihrer Gegner, etwa in der Zurückstufung der Kavallerie auf einen Bruchteil der Gesamtarmee. Ihre Vorliebe für dünnere Linien in der Schlacht zielte nicht allein auf die Maximierung der Feuerkraft ab, sondern war zugleich die Notlösung für ein ernstes Problem: Zahlenmäßig waren die Niederländer meist unterlegen. Vor allem hing der niederländische Erfolg in der Schlacht aber nicht von neuartigen Waffen oder avancierter Militärtheorie ab, sondern von der finanziellen Stabilität ihres Landes und einer spezifischen Geschäftsmentalität seiner Bewohner. Die Spanier verließen sich, trotz ihres großen Reichtums, noch immer auf Ehrgefühl und Loyalität gegenüber gesellschaftlich Höherstehenden, um die Soldaten auch dann „bei der Stange zu halten“, wenn das Geld einmal knapp wurde. Eine solche Herangehensweise war für die Niederländer vollkommen indiskutabel, denn für sie ging der einmal geschlossene Vertrag als Verpflichtung über alles. Wie hätte es in einer sich stetig weiter kommerzialisierenden Wirtschaft, deren fortgesetztes Wachstum ganz von der Bonität einzelner Akteure abhing, anders sein können? Soldaten waren Angestellte und hatten als solche Anrecht auf regelmäßige Bezahlung.

      Seit der allgemeinen Ausbreitung des Söldnerwesens um die Wende zum 16. Jahrhundert war es üblich geworden, den Soldaten monatlich ihren Sold auszubezahlen, ihnen ein oder mehrere Monatssolde zusätzlich als Anwerbeprämie in die Hand zu drücken und einen weiteren Bonus, wenn sie ihren Abschied nahmen. In den fünf Jahrzehnten vor 1530, als die Landesherren begannen, Soldobergrenzen für die einzelnen Rangstufen festzuschreiben, waren die Monatssolde