Unterwegs geboren. Christa Enchelmaier

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Название Unterwegs geboren
Автор произведения Christa Enchelmaier
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783956831683



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Umkreis von Gnadental zu finden waren.

      Jungs und Mädchen ab 15 Jahren wurden getrennt in verschiedenen Sälen einquartiert. Unterrichtet wurden die Kinder von Lehrern aus unseren Heimatgemeinden. Schüler, die eine weiterführende Schule besuchen wollten, gingen in die Oberschule der Stadt Böhmisch-Leipa.

      Im ersten Stock der Fabrik hatte das Umsiedlungskomitee in einer Ecke eine behelfsmäßige Entbindungsstation eingerichtet, wo ich eine Woche später auf die Welt kam – das erste Kind, das dort geboren wurde. Meine Tante Lydia, die in Stuttgart Kinderkrankenschwester gelernt hatte, war zuständig für diese Station und half meiner Mutter bei meiner Geburt, die ohne Komplikationen verlief. Mutter war danach noch einige Zeit in dieser Station untergebracht, in der wir gut versorgt wurden.

      Alma O. kann sich noch daran erinnern, dass in der ersten Zeit auf der anderen Seite der Straße im ersten Stock einer Villa ein älterer tschechischer Arzt eine Krankenstation hatte.

      Etwa drei Wochen später trafen die Männer und noch ein paar Frauen in der neuen Unterkunft ein. Sie waren den gleichen Weg gekommen wie ihre Familien. Viele liefen ihnen entgegen und man freute sich so über das Wiedersehen.

      Meinem Vater wurde sofort berichtet, dass er eine gesunde Tochter bekommen hatte. Er hätte ja lieber einen Jungen gehabt, aber als er mich das erste Mal im Arm hatte und ich ihn anlächelte, war alles andere vergessen, erzählte er mir später.

      Alle waren wieder glücklich beisammen.

      Viele Fragen wurden gestellt, viele Informationen ausgetauscht. »Wie war es, als ihr Gnadental verlassen habt? Seid ihr mit dem Treck gut nach Galatz gekommen? Wer versorgt jetzt die Tiere, melkt die Kühe? Wer wohnt in unserem Haus?«

      Die Gruppe wurde immer größer und die Männer berichteten abwechselnd: »In Gnadental haben wir mit vollgeladenen Planwagen ungeduldig auf den Tag der Abfahrt gewartet. Der zu erwartende Herbstregen beunruhigte uns, weil wir wussten, dass dann im aufgeweichten Boden ein Vorwärtskommen unmöglich war. Es war aber nicht nur die zu erwartende Regenzeit, die uns Sorgen machte. Es war das völlig fremde, veränderte Leben, das seit der Übernahme durch die Sowjets das Dorf beherrschte.«

      Ihre festgefügte und selbstverständliche Lebensordnung war gestört und sie fühlten sich nicht mehr als freie Menschen. Sie lebten in ihren Wirtschaften, aber es war nicht mehr ihr Zuhause. Die vielen Verordnungen des Dorfsowjets erfüllten sie sorgfältig. Aber es kamen immer neue dazu. Wie Kolchosearbeiter mussten sie den neuen Herrschern gehorchen, um nicht den Ablauf der Umsiedlung zu gefährden oder sogar in Haft genommen zu werden.

      All ihr Tun wurde misstrauisch vom Dorfsowjet und den Männern der roten Miliz beobachtet. Nun konnten sie sich vorstellen, wie sich ihr Leben gestalten würde, wenn sie bleiben würden. Mit selbstständiger Bauernarbeit wäre es für alle Zeiten vorbei. Alles musste nach dem Befehl des Dorfsowjets geschehen, auch wenn es gegen jede Erfahrung und noch so unsinnig war. Jeder noch so kleine, selbst berechtigte Einspruch wäre zwecklos und jeder Widerstand gefährlich. Es wurde ständig mit Abschiebung nach Sibirien gedroht.

      Nachdem die Frauen und Kinder weg waren, herrschte eine unheimliche Stille in den Häusern. Meistens war nur der Vater mit einem oder mehreren erwachsenen Söhnen zurückgeblieben. Der Wagen mit dem Gepäck war gerichtet, ein Verdeck zum Schutz vor Regen angebracht. Man wartete nur noch auf den Abmarschbefehl.

      Die Männer rückten zusammen. Oft waren 10 bis 12 Wagen auf einem Hof zusammengeschart und es wurden Wachen aufgestellt. Und wer diesen Dienst zu versehen hatte, hatte es nicht gerade leicht. In den Abendstunden erhob sich nämlich das Geheul der zurückgebliebenen Hunde auf den leeren Höfen, das die Nacht hindurch anhielt. Die zurückgelassenen Haustiere, die Pferde, Kühe und Schafe, waren den Russen übergeben und in große Gehege eingepfercht worden. Das Brüllen, Blöken und Wiehern mischte sich in das Heulen der Hunde und weckte Mitleid und Betroffenheit bei denen, die es anhören mussten.

      Sie waren erleichtert, als auch Gnadental den Aufruf zur Abfahrt erhielt. Im Morgengrauen ordneten sie die Planwagen auf der breiten Dorfstraße. Es wurden Wagen, Pferde und Umsiedlungsnummern kontrolliert und der lange Zug in Kolonnen eingeteilt. Einige Männer der Umsiedlungskommission, die den Treck bis zum Donauhafen begleiteten, gaben das Signal zur Abfahrt.

      Unter dem feierlichen Geläut der Kirchenglocken setzte sich der lange Zug in Bewegung. Sie fuhren langsam, schauten immer wieder zurück. Sie fuhren an Feldern vorbei, auf denen sie jahrelang gearbeitet hatten. Es waren noch die tiefen Radspuren von den vollgeladenen Erntewagen zu sehen. Und auch die großen Strohschober, Zeugen der letzten Ernte, zeichneten sich noch dunkel gegen den hellen Morgenhimmel ab. Der noch nicht geerntete Mais auf den Feldern und die Rebstöcke in den Weingärten – dieser Anblick wird wohl ein Leben lang in ihrer Erinnerung bleiben.

      Sie fuhren gen Süden, zur Donau, an verlassenen deutschen Dörfern vorbei. Sie fuhren an großen, ungeernteten Maisfeldern und an Stoppelfeldern vorbei, durchquerten eine leere Steppe, bis sie an einen Wasserlauf oder Brunnen kamen, wo sie einen Rastplatz für die erschöpften Menschen und Tiere fanden. Sie gönnten sich nur eine kurze Nachtruhe und fuhren ganz früh am Morgen weiter durch einsame, leicht wellige Landschaften, durch die sie ab und zu riesige Schafherden ziehen sahen.

      Manchmal führte sie der Weg auch durch bulgarische und russische Dörfer. Oft standen dann Leute am Wegrand, um ihnen ein Abschiedswort zu sagen. Einige reichten gekühlten Wein, Trauben oder Melonen zur Erfrischung. Die Frauen weinten und die jungen Burschen riefen: »Nehmt uns doch mit, wir wollen auch nach Deutschland, dort mit euch arbeiten!«

      Noch fuhren sie durch bekannte Gegend, aber je weiter sie in den Süden kamen, umso fremder wurde die Landschaft. Als es dann auch noch zu regnen begann, waren sie der Verzweiflung nahe. Nur langsam ging es jetzt vorwärts, doch glücklicherweise hörte der Regen nach kurzer Zeit auf.

      Abends erreichten sie die gefürchteten Lösschluchten. Hätte es in der Nacht weitergeregnet, wären sie in der weichen Erde, in der sich das Wasser gestaut hätte, ste­cken geblieben.

      Hier nächtigten sie, bauten eine große Wagenburg als Schutz vor Kälte und vor Überfällen und wärmten sich am Lagerfeuer.

      Ohne besondere Vorfälle durchquerten sie am nächsten Morgen die großen, gefahrvollen Lösschluchten und gelangten an die Grenze. Im Donauhafen Reni kontrollierten die Russen die Umsiedlungslisten und durchsuchten das Gepäck. Alles Essbare wurde konfisziert. Mit Stöcken wurde in Hab und Gut herumgestochert und nach Wertvollem gesucht.

      Als diese Kontrollen endlich überstanden waren, war den Menschen die Erleichterung anzumerken. Die nächs­te Herausforderung stand aber schon bevor; die behelfsmäßig errichtete Pontonbrücke über den Grenzfluss Pruth. Sie schwankte und die Pferde weigerten sich weiterzugehen. Nur mit sehr viel Geduld und Zuspruch schafften sie die Überfahrt nach Rumänien.

      Nach tagelanger, anstrengender Steppenfahrt erreichten sie dann den Hafen von Galatz. Der Anblick der Donau mit den vielen großen Schiffen war für die meisten ein großes Erlebnis. Viele kannten Erzählungen ihrer Väter und Großväter, die ihr Getreide in Galatz verkauft hatten. Nun waren sie den gleichen Weg gefahren, aber nicht um Geschäfte zu machen, sondern um alles, was sie sich erarbeitet hatten, endgültig zurückzulassen.

      Ihr übriggebliebenes Gepäck luden sie im Hafen aus. Es wurde registriert und auf Frachtern nach Wien weitergeleitet. Mit dem leeren Wagen fuhren sie dann in das umzäunte und streng bewachte Sammellager, wo sie ihre Pferde bei einer deutschen Kommission abgeben mussten. Und dabei waren die Pferde eines bessarabischen Bauern ganzer Stolz. Sich von ihnen zu trennen, tat besonders weh.

      Von der Donaufahrt erzählten die Männer wenig. Sie waren erschöpft und müde und wollten ihre Ruhe haben.

      Die Männer hatten nur einen kleinen Koffer mit den nötigsten Wäschestücken dabei. Die übrigen Sachen sollten von Wien aus an die neuen Ansiedlungsorte versandt werden.

      Nach Erhalt und Öffnen der Kisten und Koffer sollten sie später aber mit Schrecken feststellen, dass fast alle wertvollen Gegenstände fehlten. Auf Reklamationen beim SS-Ansiedlungsstab erfolgte keine Antwort. Wie aber später dann bekannt wurde, war im Zentrallager in Wien eine Diebesbande am Werk, die organisierten