Unterwegs geboren. Christa Enchelmaier

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Название Unterwegs geboren
Автор произведения Christa Enchelmaier
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783956831683



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SS-Stellen geduldet, teilweise sogar selbst betrieben. Nach durchgeführten Erhebungen wurden 30 bis 50 Prozent des Umsiedlergroßgepäcks gestohlen, was einem Wert von mehreren Millionen Mark gleichkam.

      Offiziell wurden die Umsiedler von der NS-Propa­ganda feierlich willkommen geheißen, von der Lagerleitung aber oft als Menschen zweiter Klasse angesehen. Die Einheimischen bezeichneten die Einwanderer sogar als weiße Araber oder Russen und Balkanesen.

      Das Regime in diesem Lager glich dem eines KZ. Die zugeteilten Rationen von Lebensmitteln wurden zum größten Teil gestohlen. Lagerverwalter, Verwaltungs-personal, Köchinnen und deren Mitläufer bedienten sich, während die Insassen hungerten.

      Die moralische Wirkung dieser Vorgänge auf die Umsiedler war katastrophal. Diebstahl, Ungerechtigkeit, Übergriffe auf persönliche Freiheit, Brutalität und Frechheiten mussten sie über sich ergehen lassen.

      Zusammengepfercht in den großen Hallen lebten sie ohne Privatsphäre. Trostlose Langeweile machte ihnen zu schaffen. Mathilde H. berichtete, dass die Betten voller Wanzen und Flöhe gewesen seien. Ihr kleiner Sohn sei jeden Morgen am ganzen Körper mit roten Flecken übersät gewesen. Auch Albert B. erzählte, dass viele Insassen mit stark juckenden roten Flecken oder Quaddeln auf der Haut zu kämpfen hatten. Man spürte den Biss der Bettwanze nicht, erst am nächsten Morgen fängt er an zu jucken. Hinzu kamen Krankheiten hauptsächlich durch Mangelernährung und eine erhöhte Ansteckungsgefahr durch die beengten Verhältnisse. Der hohe Geräuschpegel belastete vor allem die alten Menschen. Sie konnten sich an die Unruhe nicht gewöhnen.

      Alles in allem waren es unmenschliche Bedingungen. Und niemand ahnte, dass das Lagerleben fast ein Jahr dauern würde.

      Nach einer Quarantänezeit erfolgte im Dezember 1940 dann die Einbürgerung. Bei diesem Vorgang wurden alle Lagerbewohner einer als Gesundheitsprüfung getarnten rassischen, erbbiologischen und gesundheitlichen Selektion unterzogen. Auch die politische Zuverlässigkeit sowie die berufliche Einsatzmöglichkeit wurden geprüft.

      Albert B. berichtete: »Eine Mannschaft aus Ärzten, Schwestern und SS-Leuten führten die Untersuchungen durch. Die ›Patienten‹ mussten sich nackt ausziehen, dann wurden sie einer nach dem anderen von oben bis unten untersucht, es wurde nach früheren Krankheiten gefragt, die Lunge wurde abgehört, die Körpergröße gemessen, der Zustand der Zähne vermerkt. Blut wurde abgenommen und es wurde nach Erbkrankheiten gefragt. Man musste den Ahnenpass vorlegen und es wurde genau geprüft, ob die Ahnenreihe stimmte, ob es bestimmte Krankheiten oder Behinderungen gegeben hat. Nach Können und Fähigkeiten wurde gefragt und alles penibel in Karteikarten eingetragen. Zum Schluss wurden alle mit einer umgehängten Registriernummer fotografiert. Nach dieser Prozedur wurden sie in O-Fälle, A-Fälle und S-Fälle eingestuft.«

      Diese Behandlung empfanden vor allem die Erwachsenen als sehr verletzend.

      Die Urkunden, Stammbäume, Familienbücher und Auszüge aus dem Kirchenregister hatten die Umsiedler schon bei der Registrierung zur Ausreise aus Gnadental benötigt und so konnten sie nun ihre Herkunft belegen.

      Durchgeführt wurde diese Prozedur auf Weisung Himmlers von ›Fliegenden Kommissionen der Einwandererzentralstelle‹, einer Einrichtung des Reichssicherheitshauptamtes. Die Einwanderungszentralstelle, zusammengesetzt aus Polizei, SS und Sicherheitsdienst, entschied über das weitere Schicksal von ganzen Familienverbänden.

      Das Versprechen bei der Umsiedlung, dass alle im Warthegau einen Hof zugeteilt bekämen, erwies sich nun als Lüge. Nur die ›besseren Umsiedler‹, die sogenannten O-Fälle, sollten in den Ostgebieten, das heißt im damaligen Warthegau oder in Westpreußen, angesiedelt werden.

      Die Einstufung als A-Fall war das Schlimmste, was den Menschen passieren konnte. Sie sollten ins Altreich zur Umerziehung geschickt werden und in Fabriken arbeiten. Sie mussten Abschied nehmen von der Volksgruppe, von der Dorfgemeinschaft, von Verwandten und Bekannten, teilweise auch von ihren Familien, wenn die anderen Geschwister O-Fälle waren und im Osten angesiedelt wurden.

      10.000 Umsiedler wurden als nicht würdig eingestuft, einen polnischen Hof zu verwalten. Sie wehrten sich bei allen möglichen Stellen. Eine Untersuchungskommission stellte fest, dass Willkür im Spiel war. Daraufhin wurden 6.000 A-Fälle in O-Fälle umgeschrieben und im Osten angesiedelt.

      Die dritte Stufe, die sogenannten S-Fälle, meistens nichtdeutsche Knechte und Mägde, durften nur im Generalgouvernement unterkommen. Man versuchte auch, sie wieder in ihre Herkunftsländer abzuschieben.

      In manchen Lagern, auch in Böhmisch-Leipa, wurde die Blutgruppenzugehörigkeit unter dem linken Arm eingebrannt. Als Argument wurde angeführt, dass bei einer Verletzung schneller geholfen werden könnte, wenn die Blutgruppe bekannt sei. Diese Brandnarben waren später für viele ein Todesurteil, weil russische und polnische Soldaten diese als SS-Zeichen ansahen. Bei meinem Vater war das Brandzeichen zum Glück so verwachsen, dass es nicht mehr erkennbar war.

      Nach der Einbürgerung erhielten die Umsiedler die Möglichkeit, sich durch Arbeit etwas Geld zu verdienen. Mein Vater fand Arbeit bei der Bahn und konnte dadurch für einige Stunden der drangvollen Enge des Lagerlebens entrinnen.

      Albert B. berichtete, dass die ledigen Männer in Gruppen zu Arbeitseinsätzen geschickt wurden. Er war damals 17 Jahre alt und seine Gruppe bestand aus 14 Personen, die in Obergrazau bei Reichenbach eingesetzt wurden, um bei der Post Telefonleitungen zu verlegen. Da sie dort auch Unterkunft und Verpflegung bekamen, war diese Zeit für sie erträglicher als jene im Lager. Es war allerdings ein ständiger Wechsel in der Mannschaft, weil immer wieder welche den Stellungsbefehl erhielten und in den Krieg ziehen mussten.

      Die SS suchte auch im Lager Böhmisch-Leipa nach Elite-Soldaten, kann sich der damals 13-jährige Albert B. erinnern. Alle großen jungen Männer wurden begutachtet und elf von ihnen wurden in SS-Eliteeinheiten aufgenommen. Die Ausgewählten waren ungemein stolz und wurden beneidet. Wie sich später herausstellte, erhielten die 11 nur eine kurze Ausbildung. Die meisten sind im Krieg umgekommen.

      Das Lager in Böhmisch-Leipa wurde ab Februar 1941 aufgelöst. Etwa 500 Kolonisten wurden nach Johnsdorf oder Grazau im Sudetengau umquartiert. Ende April erfolgte dann die Auflösung des ganzen Lagers und die Insassen konnten mit dem Zug über Dresden nach Litzmannstadt (Lodsch) reisen. Dort wurden sie abgeholt und nach Waldhorst gebracht. Dieses Lager war die letzte Station vor der endgültigen Ansiedlung.

      Über die neue Heimat, auf die sich alles Denken und Hoffen konzentrierte, wussten sie kaum etwas. Auch nicht, was sie dort erwartete. Sie wussten nur, dass sie im Warthegau angesiedelt werden sollten. Genauso wie die Wolhynien-Deutschen vor einem Jahr.

      Alle waren froh, als sie erfuhren, dass sie ins Ansiedlungslager Waldhorst gebracht werden sollten. Waldhorst war eine ehemalige jüdische Feriensiedlung. Viele Ferienhäuser standen auf einem eingezäunten Gelände.

      Und hierher kamen nun die Umsiedler. Dort herrschte ein hartes Regime, alles wurde militärisch reglementiert. Sie mussten jetzt nicht mehr in großen Hallen zusammenleben, aber mehrere Familien mussten sich Räume teilen.

      Albert B. war damals 18 Jahre alt. Er erzählte mir, dass er in Litzmannstadt zum ersten Mal Juden mit einem gelben Stern auf dem Rücken gesehen hat und so entsetzt war, dass er diesen Anblick nie vergessen hat. Die schwäbischen Kolonisten pflegten in Bessarabien gute Kontakte zu Juden. Hier nun wurden sie schon von Weitem erkannt und durch den gelben Stern diskriminiert. Es waren nur jüdische Männer, Kontakte zu ihnen waren nicht möglich. Sie wurden streng bewacht. In Kolonnen marschierten sie täglich zum Arbeitseinsatz.

      Ich fragte in späteren Jahren meinen Vater, wie er sich damals fühlte. Voller Hoffnung und Ungeduld sei er gewesen. Die Wintersaat hatten sie versäumt und es war höchste Zeit für den Frühjahrsanbau. »Auf meinem bessarabischen Hof war ich um diese Zeit längst auf meinen Feldern«, sagte er. Er war es gewohnt, planmäßig und zügig seine Arbeit als Bauer zu erledigen. Er war hilflos und voller Unruhe, kostbare Zeit verrann. Eine gute Ernte war in dieser Kriegszeit lebenswichtig. Er sei oft am Zaun des Lagers gestanden, regungslos. Weit draußen pflügte ein Mann seinen dunklen Acker. Ein mageres Pferd als Vorspann. Die frisch aufgerissene Erde dampfte. »Vier Rösser hatten wir beim Ackern in der Stepp vorgespannt,