Unterwegs geboren. Christa Enchelmaier

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Название Unterwegs geboren
Автор произведения Christa Enchelmaier
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783956831683



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und Sorge noch vor der Abreise kommen? Die ›Placht‹, ein großes gewebtes Tragetuch, hatte sie schon bereitgelegt.

      ›Wo lege ich es schlafen‹, fragte sie sich, ›und wo kann ich unterwegs Windeln waschen und trocknen? Kann ich das Kind irgendwo baden, trockenlegen und stillen? Bekomme ich die richtige Babynahrung und frische Kuhmilch?‹ Fragen über Fragen und keine Antwort. Sie konnte es nicht fassen, dass sie in diesem Zustand ihr Haus verlassen sollte. Was passiert, wenn sie das Kind irgendwo unterwegs bekommt? Wenn es Komplikationen gibt, ärztliche Versorgung notwendig ist? Angst machte sich breit. In welch eine fatale Situation war sie geraten, und wie konnte sie mit ihr fertig werden?

      Anna war eine hübsche Frau mit einem ebenmäßigen Gesicht. Ihr dunkelblondes langes Haar hatte sie zu einem Knoten verschlungen, der ihren Hals zierte. Von Gestalt war sie eher zierlich, einen Kopf kleiner als Robert.

      Robert war groß und schlank mit dunkelblondem, welligem Haar. Was ihn auszeichnete, war seine Geradlinigkeit und die zupackende Art, mit der er tatkräftig und planvoll seine Aufgaben erledigte. Schlosser oder Schmied hätte er gerne gelernt. Fast alle seiner Schulkameraden lernten einen Beruf. Aber sein Vater hatte bestimmt: »Robert, du wirst Bauer!« Und das Wort des Vaters galt, Widerrede war nicht erlaubt.

      Um ihn gefügig zu machen, schickte er ihn zu einem Schneider in die Lehre. Drei Wochen saß Robert da mit untergeschlagenen Beinen am Tisch und stichelte mit seinen großen Händen im Stoff. Dann hielt er es nicht mehr aus, lieber wollte er ein freier Bauer auf einem eigenen Hof sein. Vater Friedrich hatte sein Ziel erreicht. So setzte er auch andere Entscheidungen durch. In seiner Amtszeit als Bürgermeister musste er mit den korrupten rumänischen Beamten auskommen. Das war außerordentlich schwierig. Am besten erreichte er seine Vorstellungen, wenn er sie zum Essen einlud und mit seinem Wein nicht sparte. Pauline, seine zweite Frau, tischte üppig auf und war im Umgang mit den Rumänen sehr geschickt.

      Robert war mit ein paar Helfern im Hof damit beschäftigt, einen Planwagen zu bauen.

      Im ganzen Dorf herrschte hektische Betriebsamkeit. Jede Familie hatte mit sich selbst zu tun. In allen Häusern wurde geschlachtet, gebacken, gebraten, gepackt und wieder umgepackt. Haltbare Lebensmittel wurden für die lange Reise zubereitet.

      Ihre neue Singer Nähmaschine wollte sie mitnehmen, überlegte Anna. Die hatte ihr Bruder Georg für sie in Deutschland gekauft und einführen lassen.. Nun machte sie den Weg wieder zurück! 1.000 Kilogramm Gepäck konnte jeder Pferdebesitzer mit dem Planwagen mitnehmen. Jede Person ab 14 Jahren durfte 2.000 Lei bei sich haben. Das war ein sehr bescheidener Betrag, doch selbst der war schon nach kurzer Zeit nicht mehr vom Sparkonto abzuheben, weil die Banken ohne Mittel waren.

      Umsiedlungskommissionen aus Vertretern Russlands und Deutschlands regelten den Ablauf.

      Wie war es wohl in Deutschland? Ihr Kind sollte dort zur Welt kommen, wenn Gott wollte. Deutschland – da ging es gerecht zu, da herrschte weder Korruption noch Ungerechtigkeit, dachte sie.

      Überall im Dorf hing der Aufruf, sich an einer bestimmten Stelle beim deutschen Bevollmächtigten zu melden und sich in die Umsiedlungslisten eintragen zu lassen. Mit der Registrierung legten die Kolonisten ihre rumänische Staatsbürgerschaft ab. Von Deutschland erhielten sie das Recht, einreisen zu dürfen. Eingebürgert wurden sie erst in den Umsiedlungslagern im damaligen ›Altreich‹. Zuerst sollten die alten Leute, Frauen und Kinder und diejenigen, die keine Pferde hatten, mit deutschen Omnibussen in die Donaustadt Kilia gebracht werden. Dort sollten alle mit Schiffen die Donau aufwärts in ein sogenanntes Umsiedlungslager befördert werden. Schon am 15. September 1940 hatte die Umsiedlungskommission vor, mit der Aktion zu beginnen.

      Im Dorf wurde erzählt, dass niemand auf seinem Hof bleiben darf. Diejenigen, die sich nicht zur Umsiedlung melden würden, kämen nach Sibirien.

      Sibirien – allein das Wort löste Ängste aus. Es hatte sich herumgesprochen, wie schlecht es den Deutschen ging, die dorthin verbannt worden waren. Am allermeis­ten fürchteten sie sich davor, Kolchosearbeiter werden zu müssen und weiter in den Osten oder ins Innere Russlands verschickt zu werden. Vater, Mutter, die Kinder, jeder in einen anderen Teil des Landes, unauffindbar, unerreichbar. Schrecklich war die Vorstellung, unter Fremden neu anfangen zu müssen, wieder Land zu kultivieren, hilflos der Behördenwillkür und fremden Menschen ausgeliefert zu sein.

      Von anderen Siedlungen weit im Osten hatten sie diese Dinge gehört. Und solch eine Zukunft fürchteten sie nun. Lieber wollten sie einen Neuanfang in Deutschland wagen, um freie Bauern und freie Menschen bleiben zu können. Deutsche im deutschen Vaterland!

      Alle Bewohner des Dorfes meldeten sich also zur sogenannten freiwilligen Umsiedlung an. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Es wurde ihnen versprochen, dass sie nach einer kurzen Zwischenzeit einen Bauernhof im Warthegau oder Pommern-Westpreußen zugeteilt bekommen würden. Genauso, wie es bereits mit den Balten-Deutschen und den Wollhynien-Deutschen erfolgreich durchgeführt worden sei. Das Deutsche Reich braucht tüchtige Bauern, hieß es immer wieder. Dass sie dort gebraucht würden, war ihnen ein Trost.

      Alle würden mitgehen, keiner wollte zurückbleiben – die Eltern, Geschwister und die vielen Verwandten.

      Die meisten waren reiche Bauern, die an Haus, Hof und Feld hingen. Annas Eltern gehörten zu den wohlhabendsten Bauern im Ort. Sie war mit neun Geschwistern aufgewachsen. So viele Kinder waren keine Seltenheit in Bessarabien, denn man hatte genug, sodass alle gut versorgt werden konnten.

      Zwei Brüder lebten mit ihren Familien in Annowka, einem Dorf, circa 50 Kilometer von Gnadental entfernt. Dort hatte ihr Vater schon vor längerer Zeit 50 Hektar Land gekauft und es den beiden Söhnen überschreiben lassen. Zwei Brüder waren Lehrer geworden, die ältere Schwester Lydia hatte in Stuttgart eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester absolviert. Emma hatte wie sie selbst einen Bauern geheiratet. Traugott war auch Bauer, zwei Schwestern waren noch nicht verheiratet.

      In der Bauernschule im Nachbarort Arzis wurden seit einigen Jahren Lehrgänge im Weben, Nähen und Zuschneiden angeboten. Diese Veranstaltungen waren sehr gut besucht. Auch Anna und ihre Schwester Emma lernte dort, wie man Kleider näht. Zuerst wurden Trachten genäht und später gab es Zuschneidelehrgänge. Rosa, ebenfalls eine ältere Schwester, hatte sich fürs Weben entschieden. Alle drei waren sehr geschickt und stolz auf ihre selbst gefertigte Kleidung. Anna trug sich mit dem Gedanken, in dem vorderen Zimmer eine Nähstube zu eröffnen. Die Nähmaschine stand ja schon dort vor dem Fenster.

      Sicher hätte sie ihre Fertigkeit im Nähen noch ausbauen können. Das waren jetzt alles Träume und Wünsche, die sie, wie so vieles, auch in Gnadental zurücklassen musste. ›Kleider werden immer gebraucht, bestimmt auch in Deutschland‹, tröstete sie sich.

      Dann hörte Anna draußen Stimmen. Ihr Schwiegervater Friedrich war in den Hof gekommen, um Robert zu holen. Er brauchte dringend Hilfe für die Erntearbeiten. Bis vor Kurzem war er noch Dorfschulz. Dann wurde er abgesetzt und unterstand jetzt dem eingesetzten Dorfsowjet. Im Kirchengemeinderat war er seit langer Zeit tätig. Er war groß und kräftig, aber nicht dick, war eine Respektsperson, auf die man hörte.

      Als sein Vater starb, war Großvater Friedrich 13 und sein jüngster Bruder erst 11 Jahre alt. Er hatte insgesamt fünf Schwestern und drei Brüder. Seine Mutter musste sich mit neun Kindern alleine durchschlagen. Die Landwirtschaft, die er zurückließ, reichte nicht für alle. So mussten die Jungen einen Beruf erlernen.

      Großvater Friedrich ging bei einem Schuster in die Lehre und verdiente sich so einen bescheidenen Lebensunterhalt. Als er zu einem stattlichen jungen Mann herangewachsen war, verliebte er sich in ein reiches Bauernmädchen. Aus ihnen wurde allerdings nichts, weil er zu arm war. Auch in Bessarabien galt die Parole: ›Liebe vergeht, Hektar besteht!‹

      Im Jahr 1908 entschloss sich sein zwei Jahre jüngerer Bruder, nach Amerika auszuwandern. Diese Möglichkeit sah Friedrich auch für sich als einen Ausweg aus der Armut an. Seinem besten Freund Albrecht machte er den Vorschlag, gemeinsam auszuwandern. Albrecht hatte sich auch schon Gedanken über solch einen Schritt gemacht. Viele junge Männer gingen damals über den ›großen Teich‹, um dem gefürchteten russischen Militärdienst zu entkommen – damals gehörte Bessarabien schließlich noch zu Russland.