Unterwegs geboren. Christa Enchelmaier

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Название Unterwegs geboren
Автор произведения Christa Enchelmaier
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783956831683



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seinem ältesten Sohn eine Hofstelle zu besorgen, was nach den rumänischen Bestimmungen nicht einfach war. Ein kinderloses altes Ehepaar in der Nachbarschaft wollte aufs Altenteil gehen und suchte einen tüchtigen Bauern. So kam es, dass sie den Hof übernehmen konnten, allerdings mit der Verpflichtung, das in die Jahre gekommene Paar zu versorgen. Unter rumänischer Verwaltung war es ein schwieriges Unterfangen, wenn ein Jungbauer einen eigenen Hof bewirtschaften wollte. Land durfte er nicht kaufen, das war verboten. Land von einem anderen Bauern pachten und auf die Hälfte säen, das heißt die Ernte wurde hälftig geteilt, oder Land erben waren die Alternativen. Sie hatte 10 Hektar gutes Ackerland, zwei Milchkühe und einige Schafe und Hühner mit in die Ehe gebracht. Ihrem Robert wurden weitere fünf Hektar Land überschrieben. 15 Hektar säte er zur Hälfte … Es war alles noch im Aufbau und am Beginn. Dann war da noch das Land seines Vaters, auf dem er auch mithalf. Ohne Hilfskräfte hätte das keiner geschafft, er auch nicht.

      Über die Ausstattung meiner Mutter weiß ich kaum etwas. Ob sie auch Basttaschen dabeihatte wie die meis­ten Frauen oder handgewebte bunte Taschen oder ein Holzköfferchen? Das Tragetuch war jedenfalls dabei, in dem trug sie mich später. Was hatte sie alles mitgenommen? Das Packen war ihr sicher schwer gefallen, denn so eine lange Reise hatte sie noch nie gemacht. Ein Besuch mit der Kutsche bei ihren beiden älteren Brüdern Immanuel und Reinhold, die in Annowka etwa 50 Kilometer entfernt gesiedelt hatten, war bis dahin ihr größter Ausflug gewesen. Mit dem Zug oder gar mit einem Schiff war sie noch nie verreist.

      Ob sie damals auch nach Deutschland wollte, habe ich sie mal gefragt. Alle in ihrem Dorf, hatte sie geantwortet, hatten sich für die Umsiedlung gemeldet. Alle! »Wir waren ein Dorf, wie eine Familie, wir wollten alle zusammen bleiben. Auch in der neuen Heimat. Wenn wir geblieben wären, was hätten die Russen mit uns gemacht? Mit unseren Kindern? Wir wollten Deutsche bleiben. Wir wollten freie Menschen bleiben!«

      Sie war sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war, die sie vor einer noch dunkleren Zukunft bewahrt hatte.

      Tief beeindruckt waren die Ankommenden, als sie erfuhren, dass die gesamte Arbeit im Lager von den Volksdeutschen aus Jugoslawien geleistet wurde. Freiwillig und unentgeltlich, mit einer ganz selbstverständlichen Hilfsbereitschaft. Es war für sie ein ›Ehrendienst‹! Sie leisteten ihn wochenlang, obwohl die meisten von ihnen Bauern waren, eigene Wirtschaften mit großen Feldern und Weingärten hatten. Dort wurde während der Erntezeit jede zupackende Hand gebraucht.

      Und die Umsiedler konnten kaum fassen, dass die Verpflegung im Lager, die wohlschmeckenden Mahlzeiten, die da so reichlich angeboten wurden, Spenden der Banater Schwaben waren. Die Mädchen in ihren schönen Trachten nähten Kleider und Wäsche für sie und waren im Lager bei der Betreuung und Verpflegung sehr behilflich.

      Es war für sie alle ein großes Bedürfnis, den deutschen Brüdern und Schwestern in ihren schweren Stunden beizustehen. Sogar eine Lagerkapelle hatten sie organisiert, die beim Eintreffen eines Dampfers flotte Märsche spielte. Am Abend spielten die Mädchen der Banater Schwaben Theater, sangen oder tanzten in den Zelten, um die Umsiedler zu erfreuen.

      Für die enteigneten Bessarabien-Deutschen war es eine unsagbare Wohltat in dieser stürmischen Zeit. Sie konnten für einige Stunden ihre großen Sorgen wegen der ungewissen Zukunft vergessen. Und ihre Augen leuchteten, denn dieses Verhalten war ihnen etwas Vertrautes. Auch in ihrer gesamten Volksgruppe hatten sie seit eh und je nach dem alten Kolonistenspruch gelebt: »Einer für alle und alle für einen.«

      Einige hatten Fotos ihrer Wirtschaft und des Dorfes mitgenommen. Eine unschätzbare Kostbarkeit. Sie wurden jetzt den neuen Freunden gezeigt. »Das war unsere Kirch, das die Schul und das unser Haus …«, hieß es dann.

      Es waren keine verzagten, verzweifelten und klagenden, sondern gläubige und hoffende Menschen. Sie legten ihr Schicksal in Gottes Hand, mit seiner Hilfe würde es einen neuen Anfang geben, trösteten sie sich.

      Besonders die Alten saßen mit sorgenvollen Gesichtern beieinander. Auch wenn sie sicher waren, dass die Jungen es schon schaffen würden. Sie würden sich umstellen und so manches dazulernen können. Mit ganzer Kraft und zähem Willen würden sie die neuen Aufgaben bewältigen können. Doch es beschäftigte sie sehr, was aus ihren verlassenen Höfen und den Dörfern werden würde. Keiner wusste, was man mit ihren gepflegten Wirtschaften und den großen, schönen Dörfern vorhatte. Wer würde sie übernehmen? Sie waren fest davon überzeugt, dass da mit Willkür und Unkenntnis vieles verdorben und die jahrzehntelange harte Arbeit sinnlos vernichtet werden würde. Aber die Frage ›wer‹ als Nachfolger der Richtige wäre, ließ sie nicht los. Am geeignets­ten erschien ihnen der Bulgare. Sie kannten ihn als arbeitsfreudig und fleißig. Er würde Land und Vieh gut versorgen und die Häuser sauber halten. Oder doch der Ukrainer? Das wäre auch noch annehmbar. Die hatten viel von den deutschen Bauern gelernt. In einem waren sich aber alle einig: »Nur nicht die Gagausen!« Dieser Volksstamm, ein Überbleibsel aus der Türkenzeit, war allen fremd. Fremd ihre türkische Sprache, fremd ihre Lebenshaltung, fremd ihre mongolischen Gesichter. Wenn die Siedler durch die zerstreut zwischen deutschen Siedlungen liegenden kleinen Gagausendörfern fuhren, konnten sie nicht verstehen, wie man so leben konnte. Die kleinen unsauberen schilfgedeckten Häuser waren aus Lehm und Stroh gebaut und standen ungeschützt in der glühenden Sommerhitze. Ohne Bäume und Blumen, wie es in den deutschen Dörfern so selbstverständlich war. Das ungepflegte Vieh war mager, die meisten kleinen Felder waren planlos angelegt und schlecht bestellt. Wie diese Menschen mit ihren vielen Kindern von einer so kleinen Ernte leben konnten, war unvorstellbar. Mit einer heftigen Abwehr reagierten die Alten auf diese Vorstellung. Auch die Rumänen waren keine erwünschten Nachfolger ihrer Wirtschaften. Diese konnten ja kaum für ihren eigenen kleinen Besitz richtig sorgen. Ihre Genügsamkeit und der Verdienst aus gelegentlicher Hilfsarbeit ermöglichte ihnen nur ein bescheidenes Leben. Doch sie konnten spekulieren, so viel sie auch wollten, die bange Frage nach dem Nachfolger blieb offen.

      Nach drei oder vier Tagen Aufenthalt im Lager war ein Weitertransport geplant. Wenn dann am frühen Morgen durch Lautsprecher gemeldet wurde: »Achtung, Achtung, alle mit der Erkennungsnummer Ki 5 oder A 4 fahren heute weiter«, war dann die Aufregung groß. Jetzt ging es endlich nach Deutschland. Aber wohin genau? Wie weit war es noch? Würden die nachkommenden Männer den Ort im Deutschen Reich finden? Wer sagt ihnen, wo ihre Familien gelandet waren?

      IM UMSIEDLUNGSLAGER BÖHMISCH-LEIPA

      Mit dem Zug ging es weiter nach Deutschland. Es mussten dort 93.000 Umsiedler untergebracht werden, bevor sie Haus und Hof erhielten. Dazu benutzte man große Gebäude mit entsprechenden Räumen, sogenannte ›Umsiedlungslager‹. Es waren etwa 800 verschiedene ›Auffang- und Beobachtungslager‹ vorgesehen, auf die die Bessarabien-Deutschen verteilt wurden. Sie befanden sich hauptsächlich in Sachsen, Franken, Bayern, im Sudetenland und in Österreich. Es wurde darauf geachtet, dass die Dorfgemeinschaften nach Möglichkeit zusammenblieben. Gnadentaler Bewohner kamen nach Böhmisch-Leipa im Sudetenland, eine Kleinstadt in Nordböhmen circa 70 Kilometer nördlich von Prag.

      Zuerst trafen die Frauen und Kinder ein, die mit dem Zug vom Zwischenlager Prachowo über Zagreb und Villach nach Böhmisch-Leipa gereist waren. Und so erfuhren auch sie zuerst, dass das Lager eine ehemalige Spinnerei war, die einem Wiener Juden mit Namen Rosenthal gehört hatte. Es hieß, die SS hätte ihn abgeholt und nach Treblinka gebracht.

      Die Fabrik war ein zweiflügliges großes, vierstöckiges Gebäude mit einigen Nebengebäuden und Baracken. Vierzehn große Räume waren für 1.700 Umsiedler vorbereitet worden. Statt Produktionsmaschinen stand nun alles voll mit primitiven, zweistöckigen mit Strohsäcken belegten Holzpritschen. Trennwände für die Familien waren nicht vorhanden.

      Die Ankommenden konnten es nicht glauben, dass ihnen so etwas zugemutet wurde. »Da hatten es ja unsere Tiere in Bessarabien besser!«, stellten sie fest. Widerwillig nahmen sie die ihnen zugeteilten Betten dann aber dennoch in Besitz. Mit Tüchern und Decken, die sie als Sichtschutz aufhängten, schafften sich einige Familien etwas Privatsphäre.

      Das Stimmengewirr und die Geräusche, die Gesprächsfetzen von Nachbarn, das Weinen der Kinder und Alten, all das machte den künftigen Tagesablauf aus. Gegessen wurde im großen ›Speisesaal‹, der in einem Nebengebäude zu finden war.