Название | Zeit verteilt auf alle Wunden |
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Автор произведения | Birgit Jennerjahn-Hakenes |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783898019088 |
Er war müde geworden und kehrte in seine Stadtwohnung zurück.
Martin erwachte in seiner Stadtwohnung in dem Bewusstsein, dass er mit dem heutigen Gründonnerstag offiziell Ferien hatte. Elf Tage. Schon sah er einen Buchtitel für einen dieser Ratgeber vor sich: Ein neues Leben in elf Tagen – und er dachte wieder an den Kalenderspruch: Manchmal beginnt das Leben in der Mitte von vorne und schiebt so das Ende nach hinten. Letztendlich war es egal, wie weit sein Lebensende nach hinten verschoben wurde, wichtig war jetzt nur, dass es möglich war, von vorne zu beginnen.
Er stand mit einem Tatendrang auf, den er von sich nicht kannte. Er fühlte sich leicht, als habe er über Nacht etliche Kilogramm verloren. Er warf einen Blick auf das Display des Radioweckers und war überrascht über die Uhrzeit. Es war schon 7:43 Uhr. Dass er so lange durchschlafen konnte, war ihm neu. Die Sonne lag hinter einer Wolkendecke, das Licht war nicht so grell im Schlafzimmer wie am Tag zuvor, er hatte gut geschlafen. Mit Elan stand er auf und plumpste beinah auf das Bett zurück, weil das schnelle Hochkommen ihm im Rücken weh tat. Das Möbelrücken gestern habe ich wohl übertrieben, dachte er. Es würde noch einiges an Anstrengung nötig sein, bis er sich im Haus eingerichtet hatte. Mein Haus. Mein Zuhause. Er stellte sich unter die Dusche und ignorierte den Rückenschmerz, so gut er konnte.
Der Mann mit kurzem Barthaar, der ihn im Badezimmerspiegel anlächelte, gefiel ihm. Er hatte ein ruhiges Leben vor sich.
Aber ein paar Dinge galt es vorher noch zu erledigen, allem voran der Umzug. Er würde nicht sparen, alles machen lassen, damit es zügig über die Bühne ging. Gut Ding will Weile haben – dem stimmte er zwar zu, aber weder hier noch dort zu wohnen – er mochte sich nicht vorstellen, was das für ein Chaos wäre. Das war wie zwischen zwei Stühlen zu sitzen: unbequem. Mit dem finanziellen Polster würde ein komfortabler Umzug hoffentlich kein Problem sein. Später hätte er ausreichend Zeit, sich zu überlegen, wie er das Polster wieder aufstocken konnte. Nur seine Bücher wollte er selbst einpacken.
Er sang laut und übertönte die elektrische Kaffeemühle, summte einen Radiosong mit, schmierte ein Brot, ließ sich keine Zeit zum Essen, sondern klappte seinen Laptop auf und suchte nach einem Umzugsunternehmen.
Nur eine halbe Stunde später hatte er eine Firma beauftragt. Am Dienstag wollten sie bei ihm abbauen und mit dem Aufbau bis Mittwoch fertig sein im neuen Zuhause. Aber vorher musste er die Möbel seiner Großmutter loswerden. Eigentlich war das alles überhaupt nicht zu schaffen. Osterferien hin oder her. Seine Hauruckaktion schlug ihm auf den Magen. Besser, er ordnete seine Gedanken und sah sich schwarz auf weiß an, was zu tun war.
Und so erstellte er das erste Mal in seinem Leben eine To-do-Liste. Als er fertig war, standen auf dem Zettel drei Dinge: Umzugskartons für Bücher besorgen; wohin mit Großmutters Möbeln?; Kündigung schreiben.
Drei Dinge auf einer To-do-Liste waren nicht viel, dachte er und sein Magengrummeln beruhigte sich ein wenig, aber leider ging es nicht um die Anzahl der Punkte, es ging um deren Inhalt. Bei dem Wort Kündigung hatte er zunächst das Beenden seines Mietverhältnisses vor Augen gehabt, doch als er das Wort so vor sich sah, dachte er daran, dass er eigentlich zuerst seine Arbeit als Lehrer kündigen musste. Seine Laune sank. Hatte er sich mit seinem Vorhaben übernommen? Zweifel bewölkten sein Tun. Wollte er das alles wirklich? Hatte er so viel Energie? Er müsste seine Entlassung aus dem Dienst beantragen, dem würde Schulleiter Sassen sich sicher in den Weg stellen. Das bedeutete ein Hinziehen über Wochen oder gar Monate. Was Martin aber wollte, war kündigen und gehen. Sofort.
Da seine Gedanken zu nichts führten, suchte er im Internet die Telefonnummer seines Vermieters heraus.
»Guten Tag Herr Korn, hier spricht Herr Wachs, ihr Mieter«, sprach er auf den Anrufbeantworter. »Ich möchte die Wohnung kündigen, bitte rufen Sie mich zurück.«
Was soll ich als Nächstes tun?, fragte er sich. Bücher einpacken? Aber er hatte keine Kartons. Da erinnerte er sich an den Einkauf und das kleine Mädchen, die auf die umweltfreundlicheren Kartons hingewiesen hatte. Er stellte nur Butter und Marmelade in den Kühlschrank, ließ das Geschirr und den angefangenen Kaffee stehen und machte sich auf den Weg. Zu agieren war immer noch besser als zu grübeln. Je schneller er den Umzug und die Beendigung seiner Anstellung als Lehrer hinbekam, desto schneller würde er Ruhe genießen können. Es fühlte sich an, als stünde er auf einem Zehnmeterbrett und hinter ihm schrien alle »Spring! Spring doch endlich!« Dabei war ihm schon das Dreimeterbrett zu hoch. Aber musste das so bleiben?
Direkt vor dem Eingang zum Supermarkt wurde ein Parkplatz frei, und er freute sich darüber, als hätte man ihm ein einzigartiges Geschenk gemacht. So konnte er hoffentlich zügig ein paar Kartons in den Kofferraum laden. Bei der Gelegenheit wollte er noch ein paar Äpfel einkaufen, er aß sie gerne zwischendurch. Gerade überlegte er, ob er die saure oder die milde Sorte nehmen sollte, da sprach ihn eine Frau an.
»Martin? Bist du das?«
Er sah die Frau fragend an, schätzte, dass sie in seinem Alter war.
»Ich bin’s, die Bärbel«, sagte sie, und ihr Tonfall verriet, dass sie ein Wiedererkennen erwartete.
»Die Bärbel, ja …«, sagte Martin und legte vier Äpfel der sauren Sorte in den Korb.
»Du erinnerst dich nicht, oder?«
Martin konzentrierte sich auf die Äpfel.
»Mein Beileid übrigens«, sagte Bärbel. »Gut ist es dir ja nicht ergangen bei ihr.«
Martin betrachtete die Frau genauer. Sie wirkte mächtig, wahrscheinlich, weil sie sehr groß war. Graue, volle Haare umrundeten ihren Kopf wie eine Mütze, an beiden Ohren baumelten riesige rotgraue, runde Ohrringe, den Rest des massigen Körpers verhüllte ein graues Wollkleid, das auf Martin wie ein Kartoffelsack wirkte. Woher zum Teufel sollte er diese Person kennen?
»Stell dir einfach vor, meine Haare wären lang, dunkelbraun statt grau, und ich würde Zöpfe tragen.«
Martin dämmerte es. »Pippi!«, rutschte es ihm raus.
Bärbel grinste. »Genau, die Pippi«, sagte sie und sah ins Leere, als fände sie dort die Vergangenheit.
Bärbel, ein Kind aus dem Dorf, das immer Pippi Langstrumpf hatte sein wollen. Frech war sie gewesen, Martin erinnerte sich. Ein Schreck jeden Lehrers, weil sie alles hinterfragte und ihre Wissbegierde manchmal über den Horizont der Grundschullehrer hinausging. Pfiffig war sie gewesen.
»Schade, dass ich mich sputen muss, ich kümmere mich heute um meinen Enkel. Aber vielleicht können wir an einem anderen Tag ein wenig plaudern. Hast du auch Enkelkinder?«
Nicht mal Kinder.
»Nein.«
»Na, was nicht ist, kann ja noch werden. Auf bald mal. Vielleicht sehen wir uns öfter, hab gehört, du bist zurück. Ich heiße inzwischen Höfer, falls du mich suchst.«
Dorftratsch? Martin verachtete Menschen, die über anderes Leben redeten, weil sie über sich selbst nichts zu sagen wussten und damit eigene Lebenslücken zu füllen versuchten. Er packte noch zwei Äpfel der sauren Sorte in seinen Korb und ging zur Kasse. Die Schlangen dort erinnerten ihn an die bevorstehenden Osterfeiertage. Normalerweise mied er das Einkaufen an solchen Tagen. Vor lauter Kartons hatte er nicht an einen überfüllten Supermarkt gedacht. Gerade stellte er sich an Kasse drei an das Ende der Schlange, da öffnete Kasse vier und er wechselte.
Die Kassiererin lächelte ihn an.
»Haben Sie Kartons für mich?«
Die Kassiererin deutete auf einen Stapel hinter sich. »Bedienen Sie sich.«
Bevor Martin sich bei ihr bedanken konnte, ertönte eine Frauenstimme hinter ihm: »Du ziehst in ihr Haus? Wie schön!« Er erkannte Bärbel, sagte nichts und wandte sich wieder an die Kassiererin: »Danke sehr.«
»Immer