Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes

Читать онлайн.
Название Zeit verteilt auf alle Wunden
Автор произведения Birgit Jennerjahn-Hakenes
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783898019088



Скачать книгу

träumen überhaupt nicht«, entgegnete Martin.

      Frau May sah Martin an. Wieder fiel ihm die Diskrepanz auf zwischen ihrer zierlichen Gestalt und dem festen Händedruck.

      »Aber wir Menschen können träumen.«

      »Bitte?« Die Frau verwirrte ihn.

      »Ach nichts«, sagte sie und sah sich wieder im Raum um.

      Martin räusperte sich. »Wenn Sie die Koffer wollen …«

      »Ach, zu gerne, leider habe ich gar keinen Platz. Es geht nur manchmal mit mir durch. Ich mag alte Dinge, die überlebt haben. Aber denken Sie über den Puppenwagen nach, ich gebe Ihnen meine Telefonnummer.«

      Nacheinander stiegen sie die Leiter hinab.

      Unten angekommen hob Frau May die Kittelschürze vom Boden auf und stopfte sie schnell in ihre Umhängetasche. »Weg damit«, sagte sie und grinste. »Aber Dankeschön noch einmal für dieses augenbetäubende Stück. Es wird meine Oma trösten.«

      Augenbetäubend. Was für ein außergewöhnliches Wort.

      Als Frau May gegangen war, sah er auf die Uhr und befand, dass es zu spät war für einen Kaffee. Abgespannt, wie er war, setzte er sich in den Fernsehsessel.

      Es war so schön still. Still wie in einem Museum, und in seiner Vorstellung war er der Wächter, der in einem Buch las und ab und zu aufschaute, ob auch kein Besucher die wertvollen Ausstellungsstücke begrapschte. Aber hier gab es keine Ausstellungsstücke. Nichts außer Ruhe und Leere. Was, wenn er Frau Mays Vorschlag überdachte und sich auf dem Speicher ein Zimmer einrichtete? Wenn er seinen geliebten Schreibtisch dort oben aufbaute? Aber was machte er dann mit dem Schreibtisch im ehemaligen Arbeitszimmer seiner Mutter? Noch einmal sah er sich um. Nein, er konnte sich nicht vorstellen, diesen Raum mit Möbeln zu bevölkern. Dieser Raum schrie nach Stille und Leere, und er wollte diesem Raum, aber auch sich selbst, die ersehnte Stille und Leere gönnen. Wohnzimmer. Lesezimmer. Leseraum. Hier war ein Raum, in dem er gelesenen Worten Platz lassen konnte. Dies hier war kein Wohnraum. Dies hier war ein Wort-Raum.

       Lies mir vor.

       Das ist ein Buch für Erwachsene.

       Lies, ich werde auch mal ein Erwachsener sein.

      Wenn es einen Platz gab, an dem er sich Mutters Lesesessel noch vorstellen konnte, dann hier. Ihn überkam das Gefühl, dass er sich hineinsetzen könnte, wenn er ihn in einen anderen Raum stellte. Ja, wenn er aus dem ehemaligen Wohnzimmer seiner Großmutter seinen Wort-Raum machte und den Sessel seiner Mutter hierher brachte, dann wäre es für ihn denkbar, darin Platz zu nehmen, weil es das Erschaffen eines besonderen Ortes ermöglichte, das Möbelstück gleichzeitig zu entfremden und neu zu beheimaten.

      Hier wollte er in Zukunft in ihrem Sessel sitzen und Worte verdauen. Ja, das wollte er. Rudi würde sich in diesem Sessel recht wohl fühlen.

      Und dann gab es noch die Aufnahme mit der Stimme seiner Mutter.

       Hallo Martin, hier spricht Mama …

      waren die einzigen Worte, die er aus dem Kassettenrekorder hören konnte, in seinem Kopf gab es jedoch viel mehr Worte …

       Morgen wirst du zehn, freust du dich?

       Und wie, Mama, mehr als auf Weihnachten.

       Zehn. Zwei Zahlen. Doppeltes Glück.

       Danke Mama.

      Sechstes Kapitel

       Wort-Schätze

      Die Nacht auf Ostersonntag hatte er in seinem ehemaligen Zimmer auf der ausklappbaren Ikea-Couch geschlafen, die die Großmutter irgendwann nach seinem Auszug hier hatte aufstellen lassen. Hatte sich vorgestellt, er sei wieder Kind; hatte die vergangenen Jahre weggedacht und war am Vorabend seines sechsundfünfzigsten Geburtstages am 27. März schlafen gegangen, als sei es der Vorabend seines zehnten Geburtstages, an den er sich so gerne erinnerte.

      Als er die Küche betrat, hörten die Kirchenglocken auf zu läuten.

      Er lauschte. Unwillkürlich hielt er inne. Endlich war es still. So still, wie er es sich wünschte. Sein Blick fiel auf die Kaffeehandmühle auf der Fensterbank. Ob sie noch funktionierte? Martin reinigte die Mühle und betrachtete sie wie ein Museumsstück. Seine Gedanken glitten in eine andere Zeit. Er sah seine Großmutter am Küchentisch sitzen, die Mühle auf dem Schoß; er hörte seine Mutter schwärmen: »Der Kaffee schmeckt am besten, wenn er handgemahlen ist.« Wie damals fühlte er sich geborgen, als er nach etwas Betteln die Kaffeemühle bekam und mahlen durfte.

      Heute musste er nicht mehr betteln. Und seinen sechsundfünfzigsten Geburtstag würde er nicht feiern, denn seit dem Unfall erschien ihm das Feiern von Lebensjahren auf immer pietätlos. Zugegeben entfloh er so auch der Trauer, der er sich nicht stellen wollte, denn sie würde die Einsamkeit in ihm hervorholen, und davor hatte er am meisten Angst. Er schluckte, stellte die Mühle auf die Arbeitsplatte und holte die Bohnen aus dem Kühlschrank. Das Geräusch beim Einfüllen weckte seine Lebensgeister. Nun setzte er sich und nahm die Mühle zwischen die Beine wie früher. Er drehte. Erst ging die Kurbel schwerfällig und quietschte. Dann spürte er, wie sie den Widerstand aufgab und mit jeder Umdrehung leichter ging. Das Lachen seiner Mutter erfüllte wieder diesen Raum und breitete sich aus wie der Kaffeeduft. Beides bescherte Martin Bilder, die das Haus mit Leben füllten. Ihm fielen die Worte von Frau May ein: Ich mag Dinge, die überlebt haben. Der Satz erinnerte ihn an einen Roman und er fragte sich, ob sie ihn auch gelesen hatte? Während er über den Titel nachdachte, holte er den Porzellanfilter aus dem Schrank und eine Tasse, auf der eine Rose aufgedruckt war. War das nicht die Lieblingstasse seiner Mutter gewesen? Er stellte den Wasserkocher an, legte eine Tüte in den Filter, kippte den gemahlenen Kaffee hinein und goss das Wasser auf.

      Dann lief er barfuß mit der Kaffeetasse in der Hand über die Wohnzimmerdielen. Jetzt, da er die Teppiche entfernt hatte, knarzten sie ordentlich. So wie es sich für ein altes Haus gehörte, dachte er und setzte sich in den Fernsehsessel. Noch hatte er den Lesesessel seiner Mutter nicht hierhergeholt.

      Er wollte gerade den ersten Schluck genießen, da klingelte es, also stellte er die Tasse auf den Beistelltisch neben dem Sessel ab und ging an die Tür.

      »Ich hab’s eben grad vom Pfarrer erfahren«, sagte Frau Wondra.

      »Was?«

      »Dass Irmgards Leiche verbrannt und ihre Asche anonym verstreut wurde.«

      »Das war ihr Wunsch.«

      »Du hast ihr einen Wunsch erfüllt. Gut.«

      Martin versuchte, in ihrem Blick zu lesen. Offensichtlich lag ihr etwas auf dem Herzen.

      »Erfülle dir deine Wünsche. Irmgard hätte das gewollt.«

      Zurück im Wohnzimmer, betrachtete er die leeren Kleiderständer. Mit einem Mal war ihm danach, die Terrassentür aufzureißen und Morgenluft hereinzulassen. Er tat es, trat nach draußen und schaute in die Ferne; sah sich an seinem zehnten Geburtstag am Küchentisch die Kerzen auspusten.

       Schau, Mama, alle aus bis auf eine.

       Na, da musst du noch üben, mein Schatz, es werden jedes Jahr mehr.

      Stärker war seine Sehnsucht nach ihr geworden, und so schmerzhaft wie sein Leben nach dem Unfall. Jetzt blieb ihm nur der Schluck Kaffee aus handgemahlenen Bohnen aus ihrer Lieblingstasse, mit dem er die Traurigkeit herunterkippen wollte. Er ging wieder hinein, nahm die Tasse vom Tisch und merkte, dass der Kaffee kalt geworden war. Aber der Morgen war noch immer jung, er konnte sich einen neuen kochen.

       Erfülle dir deine Wünsche. Irmgard hätte das gewollt.

      Als er den ersten Schluck genießen wollte, läutete es schon wieder an der Tür. Das darf doch nicht wahr sein! Draußen stand Frau May mit der Kittelschürze über dem Arm und strahlte ihn an.

      »Wollen Sie die zurückgeben?«