Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes

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Название Zeit verteilt auf alle Wunden
Автор произведения Birgit Jennerjahn-Hakenes
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783898019088



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hätte nicht so schnell aufgeben sollen. Nun war es zu spät. Zu spät, um ein guter Lehrer zu werden. Zu spät, um ein guter Lehrer zu sein. Er ließ seinen Kopf sinken und stützte ihn auf seine Hände. Das Ticken der goldenen Armbanduhr drang an sein Ohr.

      Ein Uhr war es. In vierundzwanzig Stunden war offiziell Ferienbeginn. Seine Lüge würde danach leicht enttarnt werden, wenn er sich nicht noch eine Krankmeldung besorgte für die drei Fehltage bis Ferienbeginn. Hätte das Konsequenzen? Wenn er an den Schulleiter Herrn Sassen dachte, hieß die Antwort Ja. Und wie sähen die Konsequenzen aus, wenn er gar nicht mehr erschiene? Er stand auf und ging ins Wohnzimmer, von dort aus in die Küche, wieder zurück ins Wohnzimmer, in den Flur, von dort aus in das Arbeitszimmer …

       Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben eine Welt.

      … und dann dachte er sich, dass er hier ein eigenes Dach über dem Kopf hatte. Eine Weile würde er die üblichen Kosten für Heizung, Strom und Wasser durch seine Ersparnisse und das Erbe decken können. Eine lange Weile. Gab es überhaupt einen Grund, nach den Ferien in die Schule zurückzukehren? Ihm fiel keiner ein.

       Mama, wie war das, als ich auf die Welt kam?

       Du hattest es sehr eilig, ich habe es nicht mehr ins Krankenhaus geschafft.

       Und dann?

       Dann wurdest du zu Hause geboren.

      Zu Hause. Ich bin zu Hause. Wieder zu Hause. Endlich zu Hause. Martins Kopf wurde nicht müde, diesen Gedanken zu variieren, der im Ergebnis gleich blieb: Der Körper war nach einer langen Reise sehr müde und mochte sich nicht mehr wegbewegen – jetzt, da er am Ziel war. Die Gedanken konnten sich austoben, der Bewegungsapparat durfte ruhen, ausruhen. Und tat ihm nicht der Rücken weh? Vom Sitzen auf den harten Stühlen in den Klassenzimmern, die immer grau auf ihn wirkten, weil die meisten Schüler für sein Empfinden den Enthusiasmus entbehrten, den er sich gewünscht hätte. Nur zu oft merkte er ihnen an, wie sehr sie den Gong herbeisehnten, der die Pause einläutete. Ihm war es als Schüler ganz anders ergangen. Er hatte gar nicht genug bekommen können vom Lernen und war immer der Letzte, der in die Pause ging. Meist hatte er eher lustlos in sein Pausenbrot gebissen.

      Brot. Er hatte gar kein Brot mehr zu Hause und machte sich auf den Weg zum Supermarkt, in dem es jetzt auch einen Bäcker gab. Früher hatte es im Dorf nur einen Kiosk gegeben, einen Bäcker und einen Metzger, dachte er. Heute gab es einen großen Supermarkt. Man bekam hier alles, was man zum Leben brauchte. Das Dorf war größer geworden, Neubauten eroberten Grünflächen. Damit etwas wachsen konnte, musste anderes weichen.

      Er lief auf einem Weg, der gleichermaßen Rad- und Fußweg war, und prompt ertönte eine Fahrradklingel hinter ihm. Er ging zur Seite. Eine Frau überholte ihn, sie grüßte im Vorbeifahren, er grüßte zurück, wie man das eben tat auf dem Dorf. Es war ähnlich wie in den Bergen beim Wandern, wo ein jeder zu jedem Grüß Gott sagte. Kaum war die Frau an ihm vorbeigefahren, bremste sie und stieg ab.

      »Ach, das sind ja Sie!« Sie schob ihr Rad in seine Richtung.

      Da stand sie wieder vor ihm. Die Frau aus dem Hospiz, die Frau von der Tankstelle.

      »Fahren Sie ruhig weiter«, sagte er, aber sie blieb stehen.

      »Wie geht es Ihnen?«

      »Geht, danke.«

      »Wann ist denn die Beisetzung von Frau Vollmer? Ich würde mich gerne noch einmal von ihr verabschieden.«

      »Meine Großmutter wünscht eine anonyme Beisetzung.«

      »Ach, wie schade. Also ich meine, ich hätte gerne … wie sagt man denn da?«

      Am besten, man redet nicht zu viel, dachte Martin und blieb stumm.

      »Ich hätte ihr gerne die letzte Ehre erwiesen. Darf ich Sie bitten, ihr einen Gruß von mir mit auf den Weg zu geben? Sicher werden Sie dabei sein.«

      Hatte er nicht anonym gesagt? Statt weiterer Worte nickte er.

      »Und mit Ihrem Rücken ist alles okay?«

      »Mein Rücken?«

      Sie deutete auf seine Körperhaltung. Er hielt sich den unteren Rücken mit beiden Händen, seine Wirbelsäule vertrug das Stehen nicht. Als hätte sie ihn ertappt, ließ er nun die Arme lässig neben dem Körper baumeln.

      »Das ist nichts«, sagte er.

      »Wirklich?«

      »Ja.«

      »Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.«

      Sie wandte sich ab. Dann drehte sie sich noch einmal um. »Tut mir leid«, sagte sie »… bestimmt kann ein Tag nicht schön werden, wenn man gerade einen Angehörigen verloren hat.«

      Martin wusste nicht, was er sagen sollte und beobachtete, wie sie auf ihr Rad stieg. Bevor sie davonfuhr, schenkte sie ihm ein sanftes Lächeln. Er setzte seinen Weg zum Supermarkt fort, kaufte das Brot und langte auf dem Heimweg in die Brottüte. Manchmal gab es nichts Besseres im Leben, als das Randstück eines noch warmen Brotes in den Mund zu stecken. Er fühlte sich draußen so wohl, dass er zum Vogelpark abbog. Dort setzte er sich auf eine Bank, griff nach seinem Smartphone und rief Herrn Richter an.

      »Ich verkaufe das Haus nicht«, sagte er und griff wieder nach dem warmen Brot.

      Viertes Kapitel

       Im Denkmeer

      Der Spaziergang hatte nicht nur seine Rückenschmerzen beseitigt, sondern ihn auch hungrig gemacht. Nur mit trockenem Brot würde er nicht satt werden. Er erhob sich von der Bank und lief pfeifend zurück zum Supermarkt.

      Dort füllte er den Einkaufswagen, ohne nachzudenken. Er griff einfach aus jedem Regal etwas heraus. Gleich würde er sich zu Hause eine Mahlzeit zubereiten. Zu Hause, wie gut sich das anfühlte.

      »Großeinkauf, was?«, fragte die Kassiererin, während sie Nudeln, Pesto, Joghurts, Tiefkühlpizzen, mehrere Tafeln Nussschokolade, Toastbrot und vieles mehr über den Scanner zog.

      »Ja«, sagte er und lächelte. Er konnte es kaum abwarten, alles in den Kühlschrank und die Schränke einzuräumen und fühlte sich wie als Kind, wenn er neue Schachfiguren bekommen hatte.

      Mit einem Mal fiel Martin auf, dass er keine Tasche dabei hatte. Er langte nach einer großen Tüte und legte sie auf das Band.

      »Du musst Stofftaschen nehmen, Plastik ist nicht gut für die Umwelt, weißt du das nicht?«

      Martin drehte sich zu der Kinderstimme um, die hinter ihm erklungen war. Da stand ein Mädchen in grüner Latzhose.

      »Entschuldigen Sie, meine Tochter ist manchmal etwas vorlaut.«

      »Sie hat ja recht«, sagte Martin zu der Mutter und wandte sich an das Mädchen: »Das nächste Mal benutze ich eine Stofftasche. Versprochen.«

      »Da hinten stehen Kartons, nimm doch die«, plapperte das Mädchen weiter, aber die Kassiererin hatte die Tüte schon eingetippt. Zum Glück konnte er mit Karte zahlen, denn an Bargeld hatte er auch nicht gedacht.

      »Ich habe Ferien«, sagte das Kind, während die Mutter Waren auf das Band legte. »Und du?«

      »Ich auch.«

      »Schule ist doof.«

      Die Mutter sah auf. »Lilly, nun belästige doch den Herrn nicht.«

      »Aber Schule ist doof, Mama.«

      Martin packte den letzten Joghurt in die prall gefüllte Tüte, lächelte das Mädchen an und sagte zu ihr, der Mutter und der Kassiererin gleichermaßen: »Wo sie recht hat, hat sie recht.« Dann fuhr er die Tüte im Einkaufswagen nach draußen, nahm sie heraus, stellte den Wagen zurück und sah zur Eingangstür des Supermarktes. Irgendwie hätte er noch gerne mit dem Mädchen geplaudert. Sie war so ansteckend fröhlich gewesen.

      Zum Glück war es nicht weit zum Haus, die Einkaufstüte war schwer,