Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes

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Название Zeit verteilt auf alle Wunden
Автор произведения Birgit Jennerjahn-Hakenes
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783898019088



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, »… das Grundstück, die Lage, ich schätze um die 350.000 bis 450.000 Euro.«

      Martin dividierte spontan 400.000 Euro durch vierzig verbleibende Lebensjahre. Zehntausend Euro jährlich würden nicht reichen zum Leben. Wie hoch würde die Rente ausfallen, wenn er jetzt seine Laufbahn abbrach? Schon alleine die Miete für seine Maisonettewohnung stieg kontinuierlich.

      Die Familie wollte nun das Haus von innen sehen.

      »Wie schön ist diese altertümliche Küche. Fast wie im Museum«, sagte die Frau.

      »Ich schaue mich mal oben um«, rief eines der Kinder. Ein Mädchen. Martin schätzte sie auf acht Jahre.

      Da es keiner sonst tat, ging er ihr hinterher.

      »Wo bist du?«, rief er vom Flur aus.

      »Hier«, kam es aus seinem ehemaligen Kinderzimmer.

      Mit einem mulmigen Gefühl näherte Martin sich der offen stehenden Tür.

      »Wenn ich hier wohne, wird das mein Zimmer«, hörte er das Mädchen sagen.

      Er umklammerte den Türgriff fest, trat aber nicht ein. Das Mädchen lachte. Es war ein fröhliches Lachen, und obwohl es von einem Kind kam, erinnerte es ihn an das Lachen seiner Mutter. Man lacht nur mit dem Herzen gut.

      Martin sah die abendlichen Kissenschlachten vor dem Vorlesen. Vor dem Eintragen besonderer Worte in das Büchlein. Er musste das Haus noch einmal absuchen. Vielleicht fand er die Wort-Schätze doch noch.

      »Herr Wachs?«

      Das war die Stimme Herrn Richters, die sich gegen all die anderen Stimmen durchsetzte.

      »Ich komme.«

      »Ich denke, wir können die Besichtigung beenden«, sagte Herr Richter, als Martin gerade die letzte Stufe erreichte.

      »Die Leute haben doch noch gar nicht alles gesehen.«

      »Nicht nötig. Das Haus ist alt und marode«, sagte der Familienvater.

      »Dann wollen Sie es sowieso nicht?«, fragte Martin und spürte eine eigenartige Erleichterung.

      »Das Haus würden wir abreißen. Renovieren lohnt sich nicht. Es müsste neu gebaut werden.«

      Abreißen? Was bildete der sich denn ein? Noch war es sein Haus, und er konnte bestimmen, was damit geschah.

      Endlich waren die lauten Menschen weg. Martin schloss die Tür und atmete tief durch. Dann ging er abermals nach oben, magisch angezogen von dem Zimmer, das er einst bewohnt hatte. Vielleicht konnte es ihm eine Antwort auf die Frage geben, ob und vor allem, an wen er das Haus verkaufen sollte. Aber einen möglichen Abriss? Nein! Das wollte er nicht. Das wäre ein Abschied für immer.

      Das Farblose seines ehemaligen Kinderzimmers schwärzte seine bunten Erinnerungen nicht.

       Na warte, den nächsten Treffer lande ich.

       Denkste, Mama!

      Er sah sich um.

      Das Zimmer war nicht sehr groß. Zehn, zwölf Quadratmeter vielleicht. Die Raufasertapete war ebenso ergraut und in die Jahre gekommen wie der Teppichboden und sah fleckig und schäbig aus. Der Zweisitzer lud mit seinem unansehnlichen Grau nicht einmal zum Sitzen ein, und der klobige Kleiderschrank hätte vom Sperrmüll stammen können. Trotz des großen Fensters wirkte alles sehr trostlos. Martin starrte die leere Wand an, die früher übersät gewesen war mit Postern. Auf den meisten waren Raumschiffe abgebildet gewesen, aber auch ein paar Tierposter hatten hier gehangen.

       Der schlaue Fuchs passt zu dir, du Schachweltmeister.

       Danke Mama.

      Ja, im Schach war er gut gewesen. Und die Schach-AG hatte ihm darüber hinaus die Flöten-AG erspart.

      Nach dem Autounfall hatte er alle Poster heruntergerissen und nichts mehr an die Wand gehängt.

      Das ständige Nachdenken an und über die Vergangenheit strengte ihn an, und er schüttelte den Kopf, als sei es so möglich, die Bilder darin zu löschen. Noch einmal blickte er sich im Raum um. Was mochte wohl in dem klobigen Kleiderschrank stecken? Das Büchlein? War es hier? Wo er es am wenigsten vermutete?

      Er öffnete die Türen und sah einen so vollen Schrank, dass die Kleiderstange sich leicht bog . Auf den Kleiderbügeln hingen schwere Winterjacken und Mäntel seiner Großmutter, außerdem Strickpullover aus dicker Wolle. Alles sah noch gut aus, soweit er das beurteilen konnte.

       Weggeschmissen wird nichts.

      Sein Vater war so selten zu Hause gewesen, aber an diesen Satz erinnerte er sich oft in seinem Leben. Vor allem, weil der Vater es erklärte, wie er immer alles erklärt hatte. Denn wenn er Zeit für Martin hatte, dann nahm er sie sich auch. »Damit du die Welt als Ganzes verstehst«, sagte er. Heute konnte Martin das auch nicht: wegwerfen, was noch seinen Zweck erfüllte.

      Als er das Zimmer verlassen wollte, sah er in der Ecke etwas am Boden liegen. Er hob es auf, es war ein Kalender der Sorte, die man kurz vor Jahreswechsel überall geschenkt bekam. Dieser hier war von einer Apotheke. Landschaftsaufnahmen umrahmt von Werbung für Arzneien aller Art. Ein Spruch stand darunter:

       Manchmal beginnt das Leben in der Mitte von vorne und schiebt so das Ende nach hinten.

      Martin trat einen Schritt zurück und lehnte sich an die Wand; las den Spruch noch einmal und ging dann mit dem Kalender in der Hand nach unten. Es klackerte beim Auftreten, etwas haftete wohl unter einer seiner Schuhsohlen. Auf der viertletzten Treppenstufe nahm er Platz, legte den Kalender beiseite und sah nach. Ein Reißnagel. Sicher hatte damit der Kalender an der Wand gehangen. Martin entfernte ihn.

       Manchmal beginnt das Leben in der Mitte von vorne und schiebt so das Ende nach hinten.

      Konnte das Leben in der Mitte wirklich von vorne beginnen? Gab es diese Löschtaste? Was hieß es für ihn, zurück auf Anfang zu gehen? Er nahm den Kalender wieder zur Hand und las nun alle Sprüche. Keiner beschäftigte ihn so sehr, wie der zuerst entdeckte, einzig über die Gedanken Konfuziusʼ musste er ebenfalls grübeln:

       Wenn die Worte nicht stimmen, dann ist das Gesagte nicht das Gemeinte.

      Sofort dachte er an Angelika. Nicht willentlich. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, willentlich an ihr »Ich liebe dich« zu denken. Denn wenn er daran dachte, hörte er sie laut und bestimmt sagen: »Ich liebe dich nicht mehr«. Worte, die bis heute ein Hungergefühl auslösten, wenn er sie erinnerte.

      Er erhob sich, stöhnte kurz dem Flur seinen Rückenschmerz entgegen, ging in die Küche und setzte sich an den Esstisch. Worte. Manch einer würde sagen, Worte seien nur Worte. Für ihn waren Worte Möglichkeiten. Lehrer. Ich bin Lehrer.

      Martin spielte mit dem Wort und ersetzte gedanklich das H durch ein E. Er tat so etwas öfter, es gefiel ihm. Andere lösten Kreuzworträtsel, um das Gehirn auf Trab zu halten, er kreierte Worte. Nun nahm er einen Zettel und schrieb drei Worte auf: Leerer. Leeren. Beleeren. Beleeren haftete ein Nachklang an. Ein Ton, den man noch hörte, als längst alle Instrumente in ihren Koffern eingeschlossen waren. Ihm gefiel das Wort. Es war das Gegenstück zu dem Wort befüllen. Das Wort beleeren war sehr viel aussagekräftiger als das im Duden stehende ausleeren. Denn Beleeren bedeutete nichts anderes als etwas mit Leere zu befüllen. Manche Menschen gingen in ihrem Beruf auf, weil er sie ausfüllte. Martin fühlte sich von seinem Beruf beleert. Wenn er an die Pausen im Lehrerzimmer dachte, wie sich manche Lehrer über ihre Schüler lustig machten, als seien sie selbst nie Schüler gewesen, sondern schon mit einem Wissen und einer Weisheit auf die Welt gekommen, das sie mit Eimern in sich hineingeschüttet haben mussten … dann platzte ihm fast der Kragen. Wer sah denn noch hin, wer hörte denn noch hin? Jedes Kind besaß eine eigene Geschichte, aber in seinem Schulbetrieb ging es um die Masse, nicht um den Einzelnen. So hatte er es erfahren. Er hatte damals gerade mal die Angel nach den Schülern ausgeworfen, da rissen Zwänge sie ihm nach kurzer Zeit vom Haken.