Die Akte Hürtgenwald. Lutz Kreutzer

Читать онлайн.
Название Die Akte Hürtgenwald
Автор произведения Lutz Kreutzer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267240



Скачать книгу

      Offensichtlich war Müller Straubingers Frage unangenehm. »Na ja, Sie wissen, wie das ist. Das war unendlich lange her und ich hatte anderes zu tun, als ich den Laden hier übernommen habe. Aber die Akte hab ich ja wenigstens verwahrt.«

      »Mir erscheint da Einiges merkwürdig. Nur zwei beschriebene Seiten. Keine weiteren Nachforschungen.«

      »Es gab damals viele Minentote, bis lange Zeit nach dem Krieg. Das war also nichts Außergewöhnliches. Man hat das seinerzeit als ein naturgegebenes Schicksal betrachtet.«

      »Trotzdem, irgendwas scheint mir nicht klar.«

      »Und wenn schon«, sagte Müller abweisend. »Es ist nicht Ihre Aufgabe, HK Straubinger.«

      »Ich würde mich gern drum kümmern. Mord verjährt nun mal nicht.«

      »Es war kein Mord! Vandenberg ist auf eine Mine getreten, es war also kein Mord.«

      »Vielleicht, vielleicht nicht. Kollege Wolfberg hatte daran anscheinend Zweifel.«

      Müller wurde unruhig. »Wie kommen Sie drauf?«

      »Darf ich?« Straubinger nahm die Akte wieder an sich, zog den Zettel heraus.

      Müller beugte sich über und Straubinger las vor: »›Akte Hürtgenwald‹, darunter ein großes Fragezeichen, mit Bleistift geschrieben. Darunter die Frage: ›Wonach hat Vandenberg gesucht?‹ Und zum Abschluss die Initialen ›M.W.‹«

      Müller richtete sich wieder auf. »Wo hat der Zettel gesteckt?«

      »Hinten bei dem Foto, ein bisschen versteckt in der kleinen Leinentasche.«

      Straubinger beobachtete, wie es in Müller arbeitete.

      »Gut, HK Straubinger. Nehmen Sie sich der Sache an. Vielleicht bin ich das dem alten Wolfberg schuldig.« Müller schüttelte den Kopf und stöhnte. »Hab ich es doch gewusst! Warum musste der Herrgott mir einen Mordermittler schicken?« Flehend blickte Müller an die Decke und reckte die Hände in Verzweiflung wie einst Desdemona im Angesicht Othellos. Dann wurde sein Blick streng. »Aber bitte vergessen Sie nicht, wozu Sie eigentlich hier sind. Machen Sie das im Stillen und außerhalb der Dienstzeit. Wir werden sehen, was sich draus entwickelt. Einverstanden?«

      »Akzeptiert, Sie sind der Chef.«

      »Und übrigens: Sie sollten eine Kaffeemaschine hier unten haben. Da in dem Schrank, unten links, da müsste sie stehen. Die können Sie nehmen.« Müller stützte die Hände in die Hüften, nickte und verließ den Raum.

      Straubinger ging zu dem offenen Aktenschrank und räumte unten links einen Karton zur Seite. Und da stand sie, eine »Wigomat 100«, völlig verstaubt. Straubinger lachte. So was gab es eigentlich nur noch im Design-Museum, Abteilung 50er-Jahre. Diese Kaffeemaschine war tatsächlich älter als er. Grinsend schüttelte er den Kopf und schloss die Schranktür.

      Nach diesem denkwürdigen Tag in Stolberg fuhr Straubinger durch einen heftigen Regensturm auf die Autobahn und zurück nach Köln. Nach eineinhalb Stunden war er in seiner Wohnung.

      Freitag, 12. Juni

      Der Hürtgenwald

      Das Gesicht des Mannes und das Foto seiner Leiche hatten ihn nicht losgelassen, er hatte schlecht geschlafen. Jetzt saß er frisch geduscht am Frühstückstisch und strich sich durch die Haare. Der Duft von frischem Kaffee half ihm, munter zu werden. Und schnell waren die Bilder von gestern wieder da. Von dem Mann, dem Toten im Gressenicher Wald.

      Ein diffuses Gefühl der Unruhe kam in ihm auf. Der Mann und der Fall erinnerten ihn an ein Ereignis, das lange zurücklag. War es das Porträt? Oder war es das Foto im Wald, der Tote, wie er dort inmitten dieser einsamen Waldlichtung lag, kaputte Bäume ringsumher, sein Bein in einem der Äste hängend. Grausam.

      Josef Straubinger war in den Wäldern des Chiemgaus aufgewachsen, sein Vater war Bauer gewesen und hatte zwei Hektar besessen. Jeden Sommer hatte es ihn mit den Nachbarn in die Forste gezogen, um für den Winter vorzusorgen, denn die Höfe der Region wurden allesamt mit Scheiten beheizt. In der Nachbarschaft hatten sie zusammengehalten, man hatte sich gegenseitig geholfen. An einem warmen Sommertag im Juli, bei Neumond, zogen sie aus. Dem Korbi Mühlburger, dem stets gut gelaunten Nachbarn, war es nicht wohl an diesem Morgen. Er klagte über Magenprobleme. Selbst der Kräuterschnaps hatte keine Besserung gebracht. Doch er wollte nicht zurückstehen und begleitete Straubingers Vater und die anderen. Und er, der zwölfjährige Josef, durfte auch mit. Mit festem Bergschuhwerk, einer groben Leinenhose und einer dicken Cordjacke bekleidet, war er bestens gerüstet für die schwere Arbeit. Als sie gerade dabei waren, eine riesige Fichte, die der Vater und der Bruno geschlägert hatten, mit dem Flaschenzug den Hang hinaufzuziehen, da passierte es. Straubinger erinnerte sich, wie er die Riesenratsche bediente, die der Korbi ihm eingerichtet hatte. Zug um Zug ächzte der Baum den Hang hinauf. Dem Korbi wurde unvermittelt schlecht. Er ging ein paar Schritte den Hang hinab und übergab sich. Dann, plötzlich, rutschte er aus, glitt auf dem Hosenboden auf den Baum zu und verhakte sich im Schritt mit beiden Beinen zwischen Stamm und Boden. Er fluchte. Straubingers Vater und der Bruno hechelten den Hang hinauf. Riefen ihm etwas zu. »Auslassen, Josef, auslassen!« Doch er hatte nicht gewusst, was sie meinten. Panisch hatte er den winzigen Hebel betätigt, der die Bremsnase aus dem Zahnrad der Ratsche löste, und der Baum war den Hang hinabgerast. Der Korbinian hatte geschrien wie am Spieß, denn der Baum und das Stahlseil hatten ihm den Unterschenkel abgerissen.

      Straubinger saß am Küchentisch und schüttelte sich. Die Erinnerung daran war jedes Mal fürchterlich. Der Korbinian hatte ihm niemals die Schuld gegeben. Mit einem trefflichen Holzbein ausgestattet, hatte er ihm immer wieder gesagt: »Mein Junge«, währenddessen hatte er auf das Holz geklopft, »hätt der Herrgott gewollt, dass ich mein Bein behalt, hätt er mir morgens keinen üblen Magen beschert.« Da wurde ihm klar, an wen ihn das Porträt des Mannes aus dem Wald erinnerte. Der Korbinian hatte ähnlich ausgesehen. Hellblaue Augen, schütteres blondes Haar, Seitenscheitel. Straubinger starrte ausdruckslos an die Wand und trank langsam den Kaffee aus. Dieses Gesicht!

      Als er seine Wohnung im Kölner Süden verließ, regnete es in Strömen. Auf der A 4 Richtung Aachen war die Hölle los. Er kam eine halbe Stunde zu spät in Stolberg an und begab sich gleich ins Archiv.

      »Guten Morgen!« Eine junge Frau, Ende 20, kam auf ihn zugeschossen und streckte ihm die Rechte hin. »Anja Schepp, ich soll Ihnen helfen, hier Ordnung reinzubringen.« Sie grinste verlegen.

      »Das ist schön, Anja Schepp. Darf ich Anja sagen?«, fragte Straubinger, wobei sein brummiger Bariton fast warm klang.

      »Ja, klar«, antwortete Anja fröhlich.

      »Haben Sie schon mal so was gemacht?«

      Sie zögerte. »Na ja, zum Schluss. Bei Ihrer Vorgängerin.«

      »Nanu, und Sie haben das nicht bemerkt? Ich meine dieses Chaos?«

      Anja sah zu Boden. »Doch«, sagte sie leise. »Ich hab es ja … aufgedeckt … also sozusagen. Ich hab ja bemerkt, dass …«

      »Dafür müssen Sie sich nicht verteidigen. Das ist doch gut, dass Sie das bemerkt haben.«

      Sie lächelte verschämt. »Finden Sie? Hm … Ihre Vorgängerin fand das nicht. Die hat mich ganz schön beschimpft.«

      »Ich beschimpfe Sie nicht.« Straubinger ging zu seinem Schreibtisch. »Nehmen Sie Platz, hier, gegenüber.« Straubinger klatschte kurz in die Hände. »Also, dann fangen wir mal an.«

      Anja Schepp erklärte ihm, wie alles zusammenhing, wo er was finden konnte und ein paar Worte zum Chef. »Ein wirklich netter Mensch, aber reizen Sie ihn nicht, er kann ganz schön ungemütlich werden.«

      »Er ist Polizist. Warum sollten Polizisten immer nur lieb sein?«, fragte er sie.

      »Auch wieder wahr.« Anja Schepp nahm eine Flasche Wasser aus ihrer Tasche und trank sie zum Drittel aus. »Ah«, stieß sie genussvoll hervor. »Aachener Heilwasser. Wollen Sie einen Schluck?«

      »Macht das was mit mir?«,