Die Akte Hürtgenwald. Lutz Kreutzer

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Название Die Akte Hürtgenwald
Автор произведения Lutz Kreutzer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267240



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Junge nickte. Sie schlichen einen kleinen Pfad entlang, und obwohl die Sonne bereits hell über dem dichten Wald hing, kam dem Jungen der Weg so düster vor, als würde es dämmern. Durch die eng gesetzten Fichten drang kaum ein Lichtstrahl. Nach einer Weile öffnete sich eine Lichtung.

      Die Mutter blieb stehen und hob warnend die Hand. »Keinen Schritt weiter!«

      Sie hatte ihm einige Male davon erzählt und er hatte so lange gequengelt, bis sie ihm versprach, ihn mitzunehmen. Für diese Stelle im Gressenicher Wald galt immer noch eine Betretungswarnung seitens des Forstamts, die Einheimischen wussten das. Und jetzt wurde dem Jungen schlagartig klar, warum die Leute dieses Inferno »de Höll« nannten. Er starrte auf ein monströses Chaos aus umgeknickten, explodierten und zerschossenen Bäumen. Zur Hälfte abgerissen, die Baumkronen am Boden, die trotz der Zertrümmerung noch Leben in sich zu tragen schienen, bizarr zerborstene Stämme, wild ineinander verhakt, rohes gesplittertes Holz, ein Mahnmal totaler Zerstörung.

      »Hier hat der Krieg gewütet.« Ihre Stimme klang heiser und belegt. »Noch nicht lange her. Wenige Jahre, bevor du geboren wurdest, da ist das passiert. Und die Soldaten, die hier gestorben sind, die kamen aus der Heimat, wie ich damals, aus dem Osten. Viele Jungs, nur ein paar Jahre älter als du.«

      Der Junge hatte kaum ein Ohr für seine Mutter. »Alles kaputt.« Seine Stimme bibberte. »Der ganze Wald geplatzt.« Er machte ein Knallgeräusch und ließ die gespreizten Hände auseinanderschnellen. Ängstlich sah er sich um und flüsterte: »Da ist was abgestürzt oder so.«

      »Und überall Minen, vom Krieg, weil sie noch nichts weggeräumt haben.« Mit festem Griff packte sie ihn an der Schulter, sodass der Junge den Druck deutlich spürte. »Man muss ein Stück wegbleiben.«

      »Aua!« Der Junge befreite sich mit einer schnellen Drehung. »Und hier hast du das Moped, die NSU, gefunden?«

      »Ja, dahinten, am anderen Ende. Und den Mantel auch. Ich hab ihn umgenäht, er war mir viel zu lang.«

      »Von wem war der?«, fragte der Junge.

      »Von einem Soldaten.« Beiläufig hob sie die Schultern. »Hat ihn wohl liegen gelassen.«

      Der Junge griff kurz nach dem dunklen Trenchcoat, sah auf die geflickte Stelle in halber Höhe und nickte.

      »Und dahinten wachsen auch die besten Pilze.« Sie lächelte gütig. »Also, mein Liebling, sei schön vorsichtig«, mahnte sie ein letztes Mal, »und bleib immer dicht bei mir, hörst du?«

      Dienstag, 24. März –

      53 Jahre später

      Köln

      Es war zu heiß an diesem Tag, dabei war es erst März. Frau weg, zu viel Bier im »Colonia« und jetzt dieser Taxifahrer! Erst mokierte sich der Kerl über das »fremde Gesocks«, das die Stadt unsicher mache, und als Straubinger ihn bat, ihn nur nach Hause zu fahren und die Klappe zu halten, meckerte er, dass die Bayern ja genauso eine Pest wären. Die Bayern, eine Pest. Er, Straubinger, eine Pest! Das war zu viel.

      Straubinger herrschte ihn an, er wolle sofort aussteigen. Doch der Taxifahrer gab Gas, raste um die Ecke und machte erst am Parkplatz vor dem Kölner Zoo eine Vollbremsung. Er beschimpfte Straubinger als Scheißbayer, bezeichnete, noch frecher, das Münchner Bier als Kotzbrühe und wollte zehn Euro zusätzlich. Schmerzensgeld, weil Straubinger im Gegenzug Kölsch als Rollmopspiesel bezeichnet hatte, wegen Beleidigung und so.

      »Ja geht’s no?«, lallte Straubinger in breitem Oberbayerisch den Taxilümmel an. »Schmerzensgeld? Ja, da brauchst erst mal a richt’ge Watschn, damit’s überhaupt schmerzen tut!« Straubinger holte aus und verpasste dem Taxifahrer eine, dass es knallte.

      Der Taxifahrer hielt sich die Nase. Straubinger griff nach seinen Sandalen, die er zuvor ausgezogen hatte, riss die Tür auf und stieg aus. Er warf fünf Euro auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu. In dem Moment gab der Flegel Gas.

      Verflucht! Was war das? War der Scheißkerl ihm tatsächlich über den Fuß gefahren? Straubinger kippte wie in Zeitlupe nach hinten und sah, wie der Taxifahrer mit blutiger Nase, zitternden Lippen und gehässigem Blick zweimal zum Abschied mit der Faust auf die Hupe schlug und weiterfuhr. Straubinger fiel zur Seite, der Mistkerl überrollte mit dem Hinterrad ein zweites Mal seinen nackten Fuß. Es krachte.

      Straubinger schrie auf. »Na wart, wenn ich dich erwisch, du Sau!« Mit schmerzverzerrtem Gesicht starrte er ihm nach. Er merkte sich das Kennzeichen, legte sich auf den Rücken und rief die 112.

      Fast zwei Monate hatte Straubinger damit verbracht, seinen Fuß zu kurieren. Drei Platten aus chirurgischem Stahl hatten sie ihm eingebaut. »Da nutzt Titan dir auch nix mehr«, hatte der Chirurg gesagt. Komplizierter Mittelfußbruch. »Da brauchen wir was, was nicht reißt!« Mannomann, sein Fuß auf dem Röntgenbild glich eher einem Schraubenregal im Baumarkt als einem menschlichen Körperteil.

      Heute war sein Entlassungstag. Er ließ sich direkt zum Dienstgebäude der Kölner Polizei fahren. Als er seine 105 Kilo an zwei Krücken hineinschleppte, trug er immer noch diesen Aircast-Schuh, der ihn ans Skifahren erinnerte.

      Irgendwie hatte er sich auf die Kollegen gefreut.

      »Zum Chef!«, schlug es ihm als Erstes entgegen. Kein »Wie geht es«, kein »Guten Morgen«, gar nichts.

      Nanu, immerhin war er, Hauptkommissar Josef Straubinger, lange krank gewesen. Und er war im Gespräch als stellvertretender Leiter der Kölner Mordkommission. Kein freundliches Wort? »Auch einen schönen guten Morgen, Schmitz, heute eine Katze gefrühstückt?«

      Kollege Schmitz reagierte nicht. Wie immer unfreundlich, übergriffig und dümmlich. Blöd wie ein Ochs am Spieß, dieser Kerl! Schmitz wartete nur darauf, Straubinger aus dem Weg zu räumen, denn er wollte seine Stelle haben.

      Straubinger schnaubte. »Hey, Schmitz, ich rede mit dir!«

      »Warst du Skifahren? Muss man auch können.« Schmitz hielt sich an seinem Kaffeebecher fest und sah auf Straubingers Fuß. »Aber schöner Schuh«, ließ er süffisant fallen.

      Straubinger schüttelte den Kopf und humpelte den Flur entlang, klopfte an das Büro von Polizeirat Schmid. Er ging hinein, ohne abzuwarten. »Guten Morgen. Was gibt es denn so Dringendes?«

      »Ah, Straubinger, wieder dienstfähig?«, fragte Schmid übertrieben höflich.

      »Ich denk schon, wenn ich nicht grad einen Täter im Lauf überwältigen muss.« Er deutete mit dem Kopf auf sein Bein.

      »Jaja, setzen Sie sich, Straubinger, setzen Sie sich!« Schmid nickte zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Da denkt man, im Krankenhaus nimmt man ab, und dann … na ja.« Schmid lachte kurz und gequält und zeigte auf Straubingers Bauch. »Also, setzen.«

      Straubinger blieb stehen.

      Schmid warf ihm einen Aktendeckel hin. »Suspendiert. Bis auf Weiteres.«

      »Was?« Straubingers Gesicht entgleiste.

      Schmid lächelte und Straubinger hatte keinen Zweifel, dass sein Chef sich heimlich freute. In Köln waren sie gern unter sich, dachte Straubinger grimmig. Vielleicht war das der Grund, warum sie alle ähnliche Namen hatten. Schmitz, Schmid, Schmitt, Schmidt. Er war hier seit seiner Einstellung vor vier Jahren stets wie ein Gastarbeiter behandelt worden.

      »Und, die Frau wieder zu Hause? Oder immer noch weg?« Schmid sah ihn an, als ob ihn das etwas anginge.

      »Warum bin ich suspendiert?«

      »Das mit dem Taxifahrer, das war zu viel.«

      »Schmid, hören Sie, der Kerl war eine Zecke!«

      Bevor Straubinger weiterreden konnte, fuhr Schmid ihn an. »Ja, und der Neffe des Herrn Staatssekretärs Schmied. Da haben Sie den Falschen erwischt mit Ihrem unnachahmlichen bayerischen Charme. Also! Einstweilen weg vom Dienst. Ich nehme an, Sie werden versetzt. Fällt Ihnen ja jetzt leichter, wo Sie wieder frei sind, also ohne Frau.« Schmid grinste dämlich.

      Straubinger ließ