Die Akte Hürtgenwald. Lutz Kreutzer

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Название Die Akte Hürtgenwald
Автор произведения Lutz Kreutzer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267240



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mit einer Archivnummer versehen und anscheinend in der richtigen Reihenfolge abgelegt. Die älteste Akte, die er fand, war aus dem Jahr 1968. Schlägerei in einer Gastwirtshaft in Mausbach, Gemeinde Gressenich.

      Hier schien nichts in Unordnung zu sein. Alles war sauber gekennzeichnet und sortiert. Als er gerade den Schrank schließen wollte, fiel ihm ganz unten am Boden, eingeklemmt zwischen Hängeordnern und Rückwand, etwas auf, was das ordentliche Gefüge zu stören schien. Ein verloren wirkender Aktendeckel, auf der Spitze stehend, irgendwie aus der Ordnung gefallen. Straubinger bückte sich, griff nach der ausgeblichenen grauen Pappe und zog sie vorsichtig heraus. Die Akte war sehr dünn. Merkwürdig, dachte Straubinger. Ein Aktenzeichen aus dem Jahr 1956. Ein Todesfall! Vorn auf dem Deckel stand mit Bleistift geschrieben: »Akte Hürtgenwald«.

      Seine Neugier war geweckt. Ohne den Schrank zu schließen, begab er sich zurück zu seinem Tisch. Er zog an dem Knoten des Stoffbands und öffnete den Aktendeckel. Die Akte enthielt wenige Schriftstücke und zwei Fotos. An einem am Rand des vergilbten Papiers war das Porträt eines Mannes festgesteckt, helles Haar, bereits deutlich ausgedünnt, Seitenscheitel. Straubinger erschrak. Dieses Gesicht, es erinnerte ihn an jemanden. Aber an wen?

      Auf der ersten Seite ein Name: »Heinrich III. Vandenberg, geboren am 13. Januar 1919 in Stolberg, gestorben am 21. Mai 1956, Gressenicher Wald, südlich ›Buche 19‹, Gemeinde Gressenich.«

      Gemeinde Gressenich. Schon wieder dieser Name. Straubinger gab das Aktenzeichen in den Computer ein. Nichts. Dann »Akte Hürtgenwald«, wieder nichts, anschließend suchte er nach Vandenberg. Auch nichts. Entweder war die Mappe nach einer amtlichen Aktenvernichtungsaktion im Schrank vergessen worden oder jemand hatte sie versteckt, um sie vor der Vernichtung zu bewahren.

      Er blätterte weiter. Die Buchstaben auf den dünnen Durchschlagpapieren waren kaum lesbar, die Typendurchschläge des Kohlepapiers hatten sich in dem Trägerpapier mit den Jahren ausgebreitet und waren verschwommen.

      Auf der zweiten Seite stand noch einmal der Name Heinrich Vandenberg, wohnhaft im Kupferhof Blumenthal in Stolberg. Tod bei Waldarbeiten zwischen »Buche 19« und »Pflanzgarten«, durch eine Landmine. Wurde 37 Jahre alt. Dann standen dort der Name des Försters und der Name des Polizisten, die den Toten im Wald gefunden hatten, und der Name eines Mannes, der den beiden den Fund am 22. Mai gemeldet hatte.

      Straubinger sah sich das Schwarz-Weiß-Foto des Mannes noch mal an. Ein gut geschnittenes Gesicht, dunkle Augen. Ein anmutiges, fast verstecktes Lächeln umspielte seine vollen Lippen, Falten entlang der Wangen, zweifellos ein Frauenschwarm seiner Zeit. Diese funkelnden, warmen Augen. Das Gesicht des Mannes strahlte neben der herben Männlichkeit auch etwas Gütiges aus. Vor mehr als 50 Jahren von einer Mine getötet. Ein weiteres Foto, das in einer flachen angeleimten Leinentasche am hinteren Deckel steckte, zeigte die Leiche, wie sie mit verdrehten Armen auf dem Waldboden lag, ein Bein komplett abgerissen, das andere Bein zerfetzt. Das abgerissene Bein hing hinter ihm in einem Baum. Sein Gesicht war deutlich zu erkennen. Er wollte das Foto gerade wieder zurückstecken, als ihm etwas auffiel. Im Vordergrund am unteren Bildrand erschien der Waldboden ungewöhnlich ebenmäßig. Straubinger öffnete mehrere Schubladen des Schreibtischcontainers und fand schließlich, wonach er suchte, eine große Lupe. Ein sehr schmaler Zipfel im Bildvordergrund hob sich ab vom umgebenden Waldboden. Allerdings war der Bildbereich äußerst unscharf, sodass man nicht erkennen konnte, was es war. Ein Stück Stoff vielleicht?

      Straubinger war wie elektrisiert. Dieser Mann, einerseits hart und andererseits sensibel, wie er auf dem Foto wirkte, hatte Holzarbeiten im Wald gemacht? Irgendwas sagte ihm, dass das nicht alles war.

      Er drehte das Foto um. Auf der Rückseite waren ein blauer Stempel, ein handgeschriebenes Datum und eine Unterschrift zu sehen. Der Stempel des Fotografen, die Stempeltusche mit den Jahren verlaufen. Karl Königforst, Mausbach, 22. Mai 1956. Das Foto war also einen Tag nach dem angegebenen Todesdatum des Heinrich Vandenberg entwickelt worden.

      Ein letztes Mal betrachtete Straubinger das Foto der Leiche des Mannes. Es blieb die Frage: Was war das dort im Vordergrund? Er bewegte den Kopf langsam vor, blinzelte und schien nochmals in das Foto einzudringen. Als er es in die Leinentasche zurückstecken wollte, fand er darin einen kleinen Zettel und las.

      »Na, HK Straubinger«, Straubinger erschrak, »haben Sie sich gut eingearbeitet?«

      »Danke, ja, danke.« Straubinger steckte den Zettel zurück und legte Akte und Lupe beiläufig zur Seite. »Ganz schöner Wust hier.«

      »Sie machen das schon.« Der EPHK Müller klang jovial wie ein liebevoller Patriarch. »Ab morgen bekommen Sie dann eine Assistenz.«

      »Oh, die kann ich brauchen.«

      »Warum steht die Tür offen?« Müllers Blick fiel auf den Stahlschrank am Ende des Raums.

      »Hab mal reingesehen. Ich muss ja wissen, was überall herumliegt.«

      »Da brauchen Sie nix zu machen. Altes Zeug aus den alten Gemeinden, braucht keiner mehr. Manche Akten aus den ehemaligen Polizeiwachen sind irgendwann bei uns gelandet, manche in der einzigen Wache, die heute noch existiert, in Vicht.«

      Straubinger sah ihn fragend an. »Vicht? Heißt so nicht der Fluss, der durch Stolberg fließt? Der mit den alten Hammerwerken? Hab da was gelesen.«

      »Ja, die Vicht ist ein Bach«, erklärte Müller. »Aber so heißt eben auch ’n Dorf.«

      »Und da ist die letzte verbliebene Land-Polizeiwache?«

      Müller nickte. »Nur eine einzige Wache mit zwei Kollegen für 17.000 Leute, die neun eingemeindeten Dörfer von Stolberg. Und den Schrank da, den können Sie wieder zumachen. Lassen Sie das Zeug außen vor.«

      »Und wenn ein ungeklärter Fall wieder aufgerollt werden soll?«, fragte Straubinger. »Dann sollte man doch wissen, wo was zu finden ist.«

      »Ungeklärter Fall? Fällt mir nichts ein.« Müllers Züge wurden nachdenklich, bevor er sich zum Gehen wandte.

      »EPHK Müller?«

      »Was denn, Kollege?«

      »Ich hab eine Akte gefunden, ganz hinten, versteckt hinter den anderen Akten.« Er nahm das Schriftstück in die Hand und wedelte damit. »Ein Todesfall von 1956. Den würde ich mir gern mal näher ansehen. Die ›Akte Hürtgenwald‹.«

      »1956?« Müller verzog das Gesicht und kratzte sein Kinn. »Ach das, ja. Der Fall Vandenberg, oder?«, fragte er und zeigte auf den Aktendeckel.

      Straubinger nickte. »Ja, das ist der Fall.«

      »Das war ich. Die hab ich dahinten hingesteckt. Die Akte hab ich vom ehemaligen Dorfpolizisten von Schevenhütte, Polizeiobermeister Matthes Wolfberg, ein guter Mann. Er hat den Fall damals intern ›Akte Hürtgenwald‹ genannt.« Müller deutete auf die Bleistiftschrift. »Er hat mich zur Polizei gebracht, alter Freund meines Vaters. Als er starb, ein paar Jahre nach seiner Pensionierung, hat seine Frau mir die Akte vertraulich übergeben. Sie erzählte mir, dass er sie stets gehütet hatte und davor bewahren wollte, vernichtet zu werden.«

      »Und das hatte sicher einen Grund, nehme ich an.«

      »Sie wissen ja, jeder Fall, der älter als die 70er-Jahre ist, ist eigentlich längst wegen der verstrichenen Aufbewahrungsfrist entsorgt worden.« Müller setzte sich auf die Kante von Straubingers Schreibtisch und nahm ihm die Akte kurz aus der Hand, schlug sie auf und betrachtete das Foto von Heinrich Vandenberg. »Wolfberg ist dieser Fall sehr nahegegangen, ich hab damals als Junge zugehört, als er das meinem Vater mal erzählt hat. Und mir ist seine Beschreibung nicht aus dem Kopf gegangen, wie er und der damalige Förster, der alte Enno ter Wey, den Toten gefunden haben.«

      »Und ein Hepp Dorenbusch, der hat das ja gemeldet, steht hier drin.«

      »Ja, genau«, bestätigte Müller. »Da war noch jemand dabei.«

      »Hepp Dorenbusch, Besenbinder, Gressenich, wohnhaft Dorado.« Straubinger stutzte. »Was bedeutet Dorado?«

      Müller zuckte die Achseln. »Nie gehört.«

      »Aber warum hat er gerade diese