Die Akte Hürtgenwald. Lutz Kreutzer

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Название Die Akte Hürtgenwald
Автор произведения Lutz Kreutzer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839267240



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gebrochen, Blutverlust, psychisches Trauma!«

      »Klar.« Straubinger blieb ruhig. »Und mein Bein hat nix.«

      »Notwehr! Reine Notwehr, sagt der Taxifahrer! Und jetzt gehen Sie, Straubinger, bevor ich mich vergesse.«

      Straubinger drehte sich weg und humpelte den Flur entlang. Scheißladen, dachte er. Irgendwie gut, dass er hier endlich rauskam.

      Donnerstag, 11. Juni

      Polizeihauptwache Süd, Stolberg

      Die Inspektion 2 der Polizei Aachen lag auf einem Hügel oberhalb der Stadt Stolberg. »Polizeihauptwache Süd, Stolberg«, so lautete der Name der Dienststelle offiziell. Zuständig für die Eifelgemeinden und für Stolberg, die alte Kupferstadt mit der hell leuchtenden Burg im Zentrum.

      Seit Tagen hatte es nicht geregnet, ausgerechnet heute herrschte Sauwetter. Straubinger parkte seinen dunkelgrünen 74er-Volvo vor dem Gebäude der Wache und stieg aus. Der Himmel war schwarz, es hatte mächtig abgekühlt. Eine Böe packte ihn, bevor schwere Regentropfen auf das Dach seines Autos prasselten. Er schlug den Kragen seines englischen Tweedjacketts hoch und ging auf das Zweckgebäude zu, dessen trostlose Austauschbarkeit ein hohles Gefühl von Leere in seiner Magengrube auslöste.

      Straubinger wurde gleich zum Dienststellenleiter geschickt. Der Erste Polizeihauptkommissar Dietmar Müller begrüßte ihn überschwänglich, doch sein von Falten durchzogenes Gesicht verwandelte sich im Nu in ein fast trauriges Antlitz. »Hauptkommissar Straubinger, ich weiß nicht, ob das wirklich so sein soll. Sie sind uns zugeteilt. Was haben Sie bloß angestellt? Sie müssen sich ja wirklich was Übles geleistet haben.«

      »Inwiefern?« Straubinger prüfte Müller mit skeptischem Blick.

      »Sind Sie nicht bei der Mordkommission gewesen?«

      Straubinger nickte. »In der Tat.«

      »Und nun hat man Sie hierhergeschickt, um Ordnung in unseren Keller zu bringen?« Müller, das erkannte Straubinger, war das alles sehr unangenehm. »Das ist wirklich eine Strafexpedition, HK Straubinger.«

      Straubinger hörte ihm zu, ohne zu antworten.

      »Eines muss klar sein! Sie machen keinen Außendienst. Ich brauch dringend jemanden, der das erledigt. Und Sie, so leid es mir tut, wurden nun mal zu uns geschickt.«

      »Jaja, das ist in Ordnung. Ich beschwere mich nicht. Was also soll ich tun?«

      Müller seufzte und lehnte sich zurück. »Wir haben vor einigen Jahren eine Kollegin zugeteilt bekommen. Hatte zwei Jahre Elternzeit hinter sich, und«, er beugte sich konspirativ nach vorn und hob die Hand an den Mund, »sie hatte, wie sich herausgestellt hat, keine Lust zu arbeiten. Nur ihr Kind im Kopf.« Er lehnte sich wieder zurück. »Kann man ja irgendwie verstehen. Und wissen Sie was, Kollege? Ich hab lange überlegt, was ich mit ihr machen soll. Dann kam aus Aachen die Anweisung, unseren Keller zur Verfügung zu stellen für jede Menge Akten.«

      »Warum? Die lagern doch sicher zentral im Polizeipräsidium, oder?«

      »Ja, das stimmt schon. Aber das Präsidium in Aachen platzt aus allen Nähten. Dabei ist es noch keine 30 Jahre alt, Fehlplanung, wenn Sie mich fragen. Da mussten die Sachen teilweise ausgelagert werden. Und man hat das Zeug in Lkw-Ladungen hierhertransportiert. Da hab ich mir gedacht, das ist was für die Kollegin, und hab sie drauf angesetzt, irgendwie für Ordnung zu sorgen. Das war ein Fehler.« Er seufzte nochmals.« Jetzt herrscht Chaos im Keller! Sie hat Fallakten und zugehörige Asservate wahllos in diese wunderschönen Regale gestopft, die man uns aus einem ausgemusterten Archiv, was weiß ich wo, hierhergebracht hat. Das Magazin ist sozusagen unbrauchbar.«

      »Und sie hat nichts verzeichnet?«

      »Den Eingang schon, aber den Lagerort hat sie nie festgehalten. Nix. Unauffindbar.« Er atmete tief durch, legte die Hände zusammen und sah Straubinger an. »Und jetzt haben wir jemanden beantragt, der System in das Durcheinander bringen soll. Jemanden mit Erfahrung in der Polizeiarbeit wollten wir haben. Und nun hat man Sie geschickt, einen Hauptkommissar! Was haben Sie bloß angestellt?«, fragte er erneut und raufte sich kurz die Haare. »Da werden Sie Monate dran knabbern, HK Straubinger.« Müller setzte eine Mitleidsmiene auf, als würde er ihn in die Unterwelt zur Reinigung der Abwasserkanalisation schicken.

      »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich wurde vorgewarnt. Es muss Ihnen nicht peinlich sein. Ich hab schon ganz andere Sachen machen müssen. Zeigen Sie mir, wo ich hinsoll. Den Rest schaffe ich schon. Und was meine Untaten betrifft, ich hab bloß einen Taxifahrer vermöbelt. Der hatte es verdient. Aber er hatte die falsche Verwandtschaft.«

      »Sieht ja eigentlich ganz ordentlich aus.« Straubinger schaute sich in dem fensterlosen Raum mit den Archivregalen um, auf denen jede Menge abgelegte Gegenstände und Akten herumlagen.

      Die junge Polizistin, die zuvor die feuerfeste Stahltür geöffnet hatte, grinste. »Na ja, versuchen Sie mal, hier was zu finden.« Für einige Sekunden starrte sie in seine tiefbraunen Augen und schien kurz in seinem Blick gefangen zu sein.

      Straubinger streckte sich und fuhr sich durch die schwarzen lockigen Haare. Prüfend ließ er seinen Blick zwei Sekunden auf ihr ruhen, woraufhin sie rot anlief. Er schlug die Augen nieder und sah zu dem großen Metallschrank am Ende des Raums. »Was ist da drin?«

      »Ach, das ist ein alter verstaubter Schrank, der stand schon immer hier. Waren früher Kisten mit Lampen, altes Schreibtischzeugs, Schreibmaschinen und so drin.« Verschwörerisch beugte sie sich vor und flüsterte: »Der Chef, der schmeißt nicht gern was weg, verstehen Sie?«

      Straubinger nickte und setzte eine konspirative Miene auf.

      »Jetzt hat die Kollegin erst mal die alten Fälle reingepackt … äh … soweit ich weiß«, stammelte sie. »Aus den eingemeindeten Gebieten.«

      »Aha, eingemeindete Gebiete.« Straubinger sah sie erneut an. »Was ist das?«

      Mit beiden Händen rückte sie ihren Gürtel zurecht. »Na ja, all das, was in den Stadtteilen passiert ist, die damals noch eigenständige Gemeinden waren, Breinig, Venwegen oder Gressenich.«

      »Gemeinde Gressenich, aha. Hört sich geheimnisvoll an.«

      »Ist es auch irgendwie. Dörfer rund um Stolberg, die in den 70er-Jahren der Stadt zugeschlagen wurden. Damals hatte fast jedes Dorf eine eigene Polizeiwache. Mit einem Polizisten, den jeder kannte, und so.« Sie sah auf die Wanduhr. »Ich muss leider …«

      »Nur noch eine Frage. Müssen die Akten in dem Schrank auch neu sortiert werden?«

      »Nee, da ist ja in den letzten Jahren niemand rangegangen. Nicht so wichtig. Aber so genau weiß ich das nicht.« Sie lachte. »Will eigentlich keiner wissen.« Dann tippte sie auf ihre Armbanduhr, hob verlegen die Schultern, wandte sich zum Gehen und winkte zum Abschied. »Viel Spaß hier unten.«

      »Jaja, klar. War schön, Sie kennenzulernen. Und lassen Sie die Tür bitte offen.«

      »Gemeinde Gressenich«, murmelte Straubinger leise, als sie den Raum verließ. »Was für ein klingender Name.«

      Fünf Stunden lang hatte Straubinger Akten gesichtet, ihre Registriernummern herausgesucht und mit der Datei abgeglichen, die seine Vorgängerin so unfachmännisch angelegt hatte, dass er für jedes Stück beinahe eine halbe Stunde brauchte. Des Öfteren blätterte er in den Fällen und versuchte, sich nebenbei ein Bild über die Menschen dieser Stadt zu machen. Diebstahl, Kneipenschlägereien, Rauschgiftdelikte, Autoknacker, Sexualstraftaten, Neonazis, Brandstiftung, zwei Banküberfälle, schwere Körperverletzung. Eine Stadt wie viele andere. Eigentlich nichts Außergewöhnliches.

      Immer wieder fiel sein Blick auf diesen Metallschrank am Ende des Raums. In dem Schrank gab es für ihn eigentlich nichts zu tun, Altfälle, bei denen davon auszugehen war, das sie sauber geordnet und abgelegt waren. Doch allein die Tatsache, dass der Schrank dort hinten stand, abgesperrt und lange unberührt, reizte ihn so, dass er sich irgendwann erhob und im Gehen an dem Schlüsselbund, den die Kollegin ihm übergeben hatte, nach dem passenden Schlüssel suchte. Er fand ihn, testete ihn