Zucker im Tank. Andreas Zwengel

Читать онлайн.
Название Zucker im Tank
Автор произведения Andreas Zwengel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962860226



Скачать книгу

Kanzlei darin.“

      “Gott ja, und? Das ist ein Haus, in dem ich mal gewohnt habe. Seitdem habe ich in sehr vielen Häusern gewohnt, das heißt aber nicht, dass ich sie regelmäßig besuche.“

      Tibors Ablehnung war so schroff, dass Felix ihn erstaunt ansah. “Du willst es nicht mal sehen?“

      “Wozu?“

      “Was weiß ich? Vielleicht um Erinnerungen aufzufrischen.“

      “Nicht nötig“, sagte Tibor bestimmt. “Meine Eltern haben es verkauft, also hingen sie wohl auch nicht allzu sehr daran.“

      Heimat. Er ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen und schmeckte den Kitsch, der darin mitschwang. Doch ganz kalt ließ es ihn nicht. Neunzehn Jahre in diesem Ort waren mehr als die nüchterne Zahl. Jahrelang hatte er Ginsberg aus der Ferne verdammt, den steigenden Blutdruck bei der leisesten Erwähnung ländlicher Lebensart gespürt. Er hatte danach nie mehr in einem Ort mit weniger als hunderttausend Einwohnern gelebt. Er brauchte die Anonymität. Und wenn Geschäfte über Mittag schlossen, kam er sich wie in einer Geisterstadt vor.

      “Ich habe noch nicht gefrühstückt. Wie steht es mit dir?“, schlug Felix vor. “Ich hoffe, du magst mexikanische Küche.“

      “Gerne sogar.“

      “Du hast wahrscheinlich schon überall auf der Welt gegessen, aber Antonios Küche stellt eine Herausforderung für jeden Gaumen dar.“

      “Das klingt wie eine Warnung.“

      Kapitel Vier

      Die Wahl zum Bürgermeister hatte Garth zu Beginn als eine reine Formsache betrachtet. Sein Vorgänger war berühmt gewesen für seinen vollständigen Mangel an Führungsqualitäten und Geschäftssinn. Der Mann hatte seine politische Ausrichtung am jeweiligen Gesprächspartner orientiert, um möglichst wenig Aufregung in seinem Amt zu haben. Garths erste Amtshandlung als Bürgermeister hatte darin bestanden, die Gemeindevertretung nach seinen Vorstellungen umzugestalten. Er spielte die einzelnen Parteien gegeneinander aus, bis sich die meisten schmollend zurückzogen. Jeden potenziellen Gegenkandidaten drangsalierte er lange genug, bis er sich ein anderes Hobby suchte. Die Gemeindevertretung wurde rasch zum Scheinkabinett. Die wenigsten Mitglieder waren glühende Bewunderer von Garth, aber keiner von ihnen stellte einen ernst zu nehmenden Gegner dar, der sich seinen Wünschen widersetzen würde.

      Die Gemeindevertretung hatte sich um den großen Tisch im Konferenzraum versammelt. Gewöhnlich tagten sie am letzten Donnerstag jeden Monats und nur mit dreitägiger Voranmeldung, doch an diesem Tag hatten sich die acht Mitglieder vor Garths Bürotür versammelt, bevor er zum Telefonhörer greifen konnte. Bürgermeister Garth blickte in die Runde. Links von ihm saß Max Krabbe, der Arzt des Dorfes, der wegen seiner Freigiebigkeit bei Krankheitsbescheinigungen den Spitznamen Doc Holiday führte. Er war ein Fachidiot und außerhalb seiner Praxis nur begrenzt lebensfähig, aber auch nützlich, da er die ärztliche Schweigepflicht großzügig auslegte und jede Information an Garth weitergab, nach der dieser verlangte. Krabbe wollte sein Kumpel sein und biederte sich aufs Schamloseste bei Garth an.

      Neben dem Arzt saß Lehrer Bach, der seine Redebeiträge gerne durch beispielhafte Verhaltensweisen Achtjähriger belegte und gewohnheitsmäßig auf die Bundespolitik abschweifte. Besonders seit Pisa nicht mehr nur eine Stadt in Italien war, die einige glücklose Turmbauer angezogen hatte. Ansonsten war er froh, wenn man ihn in Ruhe angeln ließ. Wer ihn dabei störte, stellte schnell fest, dass er nicht halb so freundlich war, wie er wirkte. Denn Bach lächelte nur deshalb so viel, weil seine Zähne zu groß für seinen Mund waren und er die Lippen kaum über den Zahnreihen schließen konnte.

      Rudolf Kernstein war Autohändler. Genau genommen verkaufte er die Autos in Garths Autohaus und war in jeder Hinsicht abhängig von seinem Chef, bei dem er immense Schulden hatte. Mindestens genauso abhängig war er vom Alkohol, der seine Hilflosigkeit noch verstärkte. Ein trauriger Fall. An der Ecke des Tisches saß Hellmuth Ziegler, der sich vom ersten Marihuanatrip seines Lebens erholte. Für gewöhnlich ein kompetenter, verlässlicher Mann, der politisch völlig unbelastet war und in ihrer Runde gerne die Stimme des kleinen Mannes vertrat. Genauso wie Dörr, der Garth am anderen Ende des Tisches gegenübersaß. Im realen wie im übertragenen Sinne. Dabei setzte er sich nur für die Themen ein, die ihn unmittelbar betrafen. Alle anderen interessierten ihn nicht. Günther Dörr war cholerisch, streitsüchtig und nahm immer eine Gegenposition ein. Er sammelte Feindschaften wie andere Leute Münzen, Briefmarken oder gebrauchte Damenunterwäsche.

      Kurt Amsel, der Bäcker, war harmlos, naiv und gutmütig. Er übernahm in seiner Freizeit die ehrenamtliche Aufgabe, das Wohlbefinden der Ginsberger zu gewährleisten. Er organisierte Ferienangebote für Kinder, Jugendfreizeiten, Seniorennachmittage und Feste mit den verschiedenen, meist verfeindeten Ortsvereinen. Darüber hinaus Konzerte, Lesungen und andere kulturelle Veranstaltungen, die nach dem Urteil von Garths Frau allesamt lächerlich und provinziell waren. Amsel half auch bei Nachbarschaftsstreitigkeiten und Problemen in der Familie und hatte für jeden ein offenes Ohr. Auf der anderen Seite schien er keinen Ehrgeiz zu besitzen, in dieser Runde respektiert oder auch nur gehört zu werden. Außer bei lautstarken Auseinandersetzungen, die seinem extremen Harmoniebedürfnis zuwiderliefen, sagte er während der Sitzungen kein einziges Wort. Er schien mit allem zufrieden, solange es ruhig und friedlich abgewickelt wurde.

      Ganz im Gegensatz zu Rolf Berger, der nie zufrieden war, selbst wenn er etwas durchsetzen konnte. Berger war unsachlich, uneinsichtig und unbelehrbar. Er hatte zu jedem Thema eine Meinung und berief sich auf Fakten, die stets völlig falsch waren. Wie bei so vielen anderen war es Unkenntnis gepaart mit Überheblichkeit, die ihn gegen vernünftige Argumente immun machte. Sein Gegenstück in Östrogen war Judith Kemmer. Sie war die beste Freundin von Garths Frau, neben ihr die berühmteste Person Ginsbergs und ¡ aus für Garths unerfindlichen Gründen ¡ Mitglied der Gemeindevertretung. Unwissend, uninteressiert und arrogant zog sie jede Sitzung dadurch in die Länge, dass sie am Ende einer Diskussion entsetzlich dumme Fragen stellte oder noch einmal alles wiederholte. Ihre Popularität im Ort verdankte sie ihrem Stellenwert als Schriftstellerin. Was eine tolle Sache war, wenn man keines ihrer Werke gelesen hatte.

      Garth senkte den Blick auf den Tisch vor sich, dann schwenkte er erneut über die Gesichter. Diesmal sehr viel schneller. Idiot. Opportunist. Schwächling. Langweiler. Arschloch. Noch ein Idiot. Quertreiber. Superzicke. Die Vertreter von Ginsberg. Sie redeten sich die Köpfe heiß und Garth sah ihnen dabei zu. Er hatte bei jedem einzelnen von ihnen Gründe gehabt, ihnen einen Platz an seiner Tafel zu verschaffen. Profilierungssüchtige Figuren wie Berger und Dorn waren im Ort durch ihre Vereinstätigkeit bekannt genug, um ausreichend Anhänger hinter sich zu scharen. Garth hatte Amsel berufen, um seine Popularität im Ort zu nutzen, und Krabbe, um der Gemeindevertretung einen seriösen Anstrich zu verschaffen. Ebenso Lehrer Bach, der nie sonderlich auffiel und wohl auch in Gedanken lieber fischen ging. Judith Kemmer war für ihn persönlich eine Fehlentscheidung, weil sie ihm furchtbar auf die Nerven ging, aber sie wirkte wohltuend auf das Ego von Berger und Dorn, die sich ihr gegenüber überlegen fühlen konnten. Solange die beiden mit frauenfeindlichen Gedanken beschäftigt waren, konnten sie nicht auf andere Weise Schaden anrichten.

      Garth betrachtete die sich heiser quasselnde Versammlung mit ausdrucksloser Miene und verriet durch keinen Aspekt seiner Körpersprache, wie er das Schauspiel bewertete. Und das war auch gut so. Die Stimmungspalette im Raum reichte von verzweifelt bis aggressiv. Der Hauptpunkt war die Auswirkung des Drogenskandals auf den Ruf des Ortes und die Wirtschaft. Garth konnte die Aufregung verstehen. Jahrzehntelang hatte Ginsberg vor sich hingedümpelt. Längst hatte man sich damit abgefunden, dass der Ort niemanden durch seine attraktive Infrastruktur anzog und auch für Pendler völlig uninteressant war, da Autobahnen in jede Richtung mindestens dreißig Kilometer entfernt lagen. Doch dank Garths Wirken als Bürgermeister gab es heute in Ginsberg alles, was man für das alltägliche Leben brauchte. Der Ort besaß einen Supermarkt, einen Bäcker, eine Metzgerei, eine Tankstelle mit Postfiliale (genauer gesagt, ein Schalter, der nicht größer war als eine Kinderpost), einen Friseur, ein Autohaus mit Werkstatt, zwei Gastwirtschaften und eine Bank. Es gab einen Fußballplatz und einen Tennisplatz. Für so ziemlich jede Beschäftigung hatte