Zucker im Tank. Andreas Zwengel

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Название Zucker im Tank
Автор произведения Andreas Zwengel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962860226



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Genehmigung durfte er kaum etwas unternehmen. Deshalb konnte er nur noch auf seinen Ruf setzen, ein unerbittlicher Mistkerl zu sein. Die Ereignisse im vergangenen Sommer hatten ihnen allen geschadet.

      “Was ist mit der Polizei?“, fragte Chloe, während sie zur Hintertür der Gemeindeverwaltung eilten.

      “Die kannst du mir überlassen. Deine Aufgabe ist die Öffentlichkeit.“

      Als Chloe das Großraumbüro im Erdgeschoss betrat, ging ein Seufzer der Erleichterung durch die Reihen der Angestellten, ohne dass einer von ihnen seine Arbeit unterbrach. Überall klingelten Telefone, Ginsberger drängten gegen die Empfangstheke und stellten unentwegt Fragen. Hinter ihnen waren weitere Bürger zu sehen, die versuchten, von draußen nachzurücken.

      Chloe gab Villeroy einen Wink, und der nickte verstehend. Mit ausgebreiteten Armen ging er auf die Leute zu, die vor ihm zurückwichen. Sie wollten ihrem Ärger Luft machen, aber nicht vor einem Anwalt. Noch dazu einem äußerst klagefreudigen Vertreter dieser Zunft. Sie mussten fürchten, bei ihrem Gepolter etwas zu sagen, wofür er sie im Nachhinein belangen konnte. Als der letzte von ihnen rückwärts über die Türschwelle nach draußen getreten war, schloss Villeroy den Leuten die Tür vor der Nase.

      Die vier Angestellten schauten dankbar auf. Silke Beck knallte einen Hörer auf die Gabel, schnaufte kurz und griff nach dem nächsten klingelnden Apparat. Paul Bergmann saß ihr gegenüber und sprach in zwei Hörer gleichzeitig. Alex Tiller zog dreimal schnell an einer Zigarette, ohne die Hand zwischen den Zügen sinken zu lassen, dann sprach er weiter beruhigend in das Telefon.

      Chloe stieß einen durchdringenden Pfiff aus und beendete damit alle Gespräche. Erleichtert aufstöhnend legten die drei ihre Hörer auf. “Okay, welche Informationen habt ihr bisher rausgegeben?“

      Paul fasste die häufigsten Phrasen zusammen und Chloe nickte zufrieden. Die Tür ging auf und Christine Rüger, die vierte Bürokraft, schlüpfte herein.

      “Wer ist draußen?“, fragte Chloe.

      “Tageblatt, Kurier, Thea Richler natürlich, jemand von der Neuen Post, den ich nicht kenne, und sogar zwei Mädchen von einer Schülerzeitung. Aber bisher keine überregionale Presse.“

      “Was ist mit dem Fernsehen? Haben wir deren Interesse?“

      “Keine Ahnung. Nichts zu sehen bis jetzt.“

      Chloe zog ihr Handy, scrollte mit dem Daumen über die Adressliste und sprach ein paar Minuten freundlich plaudernd hinein. Ihr Gesicht verfinsterte sich, als sie die Verbindung unterbrach. “Ein Team ist aus Mainz unterwegs, sie sind vor zwanzig Minuten losgefahren. Uns bleibt höchstens noch eine Stunde. Die Öffentlich-Rechtlichen scheinen sich nicht für uns zu interessieren, um die müssen wir uns also keine Sorgen machen.“ Chloe sah aus dem Fenster auf die wachsende Menschenmenge. “Alex, du und Christine, ihr macht den Laden dicht. Sucht den Hausmeister und alle, die nichts zu tun haben. Niemand darf hier rein.“

      “Wenn die Leute fragen?“

      “Keine Erklärungen, keine Diskussionen, schließt die Eingangstür ab.“ Chloe wandte sich an ihre übrigen Mitarbeiter. “Die nächste Stunde entscheidet, wie wir die Angelegenheit verkaufen können. Wir warten nicht ab, bis sich die Leute da draußen selbst Informationen beschaffen oder auf irgendwelche Gerüchte angewiesen sind. Ruft alle an, die uns gewogen sind oder uns etwas schulden. Letztere zuerst.“

      Sie schlüpfte aus der Jacke ihres Kostüms. “Wir brauchen Gegenstimmen. Wen können wir Seriöses aufbieten?“

      Paul zuckte mit den Schultern: “Krabbe?“

      “Nein, der kann nicht lügen, ohne rot zu werden.“

      “Ziegler?“

      “Der würde nicht lügen und nach allem, was ich gehört habe, ist er im Moment auch nicht ansprechbar. Wir brauchen außerdem jemanden von der Polizei, der die Sache runterspielt. Er soll die ganze Angelegenheit so weit verharmlosen, wie er es vertreten kann, ohne Ärger zu bekommen. Oder nur so viel Ärger, wie wir uns aus der Portokasse leisten können. Lass dir von Villeroy einen Namen geben.“ Sie wandte sich an Christine. “Ich brauche eine Presseerklärung, die wir draußen verteilen können. Irgendwas Kurzes über unbestätigte Gerüchte und rückhaltlose Aufklärung blablabla, und ich brauche es in fünf Minuten. Wir haben Ruhe, solange die Gemeindevertretung tagt, aber wir müssen etwas in der Hand haben, wenn mein Vater den Leuten gegenübertritt.“

      “Wird gemacht“, erklärte Christine stellvertretend für alle Anwesenden. Mit dem Fuß zog sie sich einen Schreibtischstuhl heran, öffnete im Setzen eine neue Datei des Schreibprogramms, und kaum hatte ihr Gewicht die Federn des Stuhls zusammengedrückt, flogen ihre Finger über die Tastatur.

      Chloe sah zufrieden, wie ihre Mitarbeiter an der Bewältigung der Krise arbeiteten. Zuvor hatten sie nur auf Aktionen von außen reagiert, aber nun hatte Chloe sie in die richtige Richtung gedreht und losgeschickt.

      Viele Leute dort draußen würden ihr genau das zum Vorwurf machen. Dass nichts richtig lief, bevor sie es in die Hand nahm. Chloe wurde seit der Schulzeit hinter ihrem Rücken “Prinzessin“ genannt, galt als hochnäsig und eingebildet. Allerdings nur bei denjenigen, die sich ihr unterlegen und deshalb eingeschüchtert fühlten. Chloe fiel es schwer, dagegen anzukämpfen, denn obwohl sie die erwähnten Attribute nicht für sich in Anspruch nahm, war doch jedem klar, dass sie mit ihren unbestreitbaren Qualitäten nicht richtig in ein kleines beschauliches Dörfchen gehörte. Sie stand am Fenster, hatte den linken Arm quer über ihren Bauchnabel gelegt und stützte den rechten Ellenbogen darauf, während sie telefonierte. Inzwischen war das, was ohnehin alle wussten, bestätigt worden: Der Schuppen hatte als Versteck für eine bisher unbekannte Menge Hanf gedient. So viel war bekannt, über alles andere konnten sie nur Vermutungen anstellen. Wem gehörte das Zeug? Wer hatte es dort versteckt? Und vor allem, wer hatte es angezündet? Das waren die Fragen, die momentan alle in Ginsberg beschäftigten. Chloe konnte sich natürlich denken, wen die konservative Gemeindevertretung verdächtigen würde. Sie war sicher, dass die Schreihälse im oberen Besprechungsraum noch keinen Schritt weitergekommen waren. Christine hielt ihr einen ersten Entwurf der Presseerklärung entgegen. Sie las ihn durch, kritzelte einige Verbesserungen dazu und gab ihn zurück.

      Als sie die Treppe nach oben ging, sah sie vom Absatz aus Dieter Mücke vor der Tür stehen und machte kehrt. Chloe interessierte sich nicht für seine neuesten Sorgen, da er ständig einen Vorwand fand, um sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Sie musste sich die meisten Männer in Ginsberg vom Leib halten, darunter auch die Angestellten ihres Vaters. Einige versuchten es auf die schmeichlerische, vorgeblich weltgewandte Tour, andere auf die archaisch-rohe. Sie ließ alle abblitzen. Alle Frauen der Familie Garth kannten diese permanente Umwerbung, aber ihre Stiefmutter und ihre Schwester hatten ihren eigenen Umgang damit gefunden. Erika Garth stieß ihre Verehrer vor den Kopf, vernichtete deren Selbstbewusstsein mit maximal drei Sätzen und ließ sie als zuckende Wracks links und rechts am Wegesrand zurück. Melanie dagegen schlief mit ihren Verehrern, was aber irgendwie dasselbe Ergebnis erzielte. Nur Chloe feilte noch an der adäquaten Methode, aufdringliche Kerle loszuwerden, ohne sie dabei bis in die Grundfesten ihrer Männlichkeit zu erschüttern. Sie machte kehrt und ging wieder nach unten.

      Auf dem Treppenabsatz sah sie aus dem Fenster, um die Ursache des plötzlich ansteigenden Lärmpegels auszumachen. Früher als erwartet hatten sich die Vertreter überregionaler Zeitungen und mehrerer Privatsender zu der lokalen Presse gesellt. Sie witterten hinter der ganzen Sache die Sensationsstory, die sie zugegebenermaßen auch war. Dazwischen konnte Chloe die Gesichter besorgter Bürger ausmachen, wobei letztere von ersteren interviewt wurden.

      Die Presseerklärung würde keine Wirkung zeigen. Wie auch, sie enthielt nicht die geringsten Informationen und diente lediglich als Beleg dafür, dass sich der Bürgermeister mit der Angelegenheit beschäftigte. Auf eine ausgewachsene Krise war niemand vorbereitet gewesen. Die Medieninvasion konnte einen Tag vor der Bürgermeisterwahl katastrophalen Schaden anrichten. Im Gedächtnis der Leser, Hörer und Zuschauer würde man Ginsberg mit Drogen gleichsetzen und es gab kaum einen schlechteren Zeitpunkt dafür als dieses Wochenende. Das ganze Haus würde voller Wähler sein, die keine Gelegenheit mehr haben