Zucker im Tank. Andreas Zwengel

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Название Zucker im Tank
Автор произведения Andreas Zwengel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962860226



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stach allerdings zwischen den anderen hervor. Die letzte Renovierung lag lange zurück. Der Putz wies viele feine Risse auf. Eine öffentliche Grünfläche mit dichtem Buschwerk war direkt vor dem Gebäude angelegt worden. Es machte den Eindruck, als wollte man dadurch das Haus verstecken und dieser Eindruck täuschte nicht.

      “Hat sich kaum verändert“, sagte Tibor, als der Touareg auf den Innenhof rollte.

      “Tja, diesen Sinn für Nostalgie wissen nicht alle zu schätzen.“

      Zwischen den Pflastersteinen im Hof wucherte es ungebremst, auch wenn die gnadenlose Sonne jegliche Vegetation längst ins Bräunliche verfärbt hatte. Am Fuß der Treppe versetzte Felix dem baumelnden Punchingball gewohnheitsmäßig einen Haken, der ihn an der Hauswand entlangtanzen ließ. Sein Onkel hatte irgendwann die grandiose Idee gehabt, den angesammelten Krempel nicht mehr in Kisten im Keller zu verwahren, sondern an die zahlreichen Außenwände zu nageln. Entlang der Hauswand hingen in unregelmäßigen Abständen geflochtene Körbe, Kerzenhalter mit Spiegeln, ein geschnitzter Wurzelsepp aus einem längst vergessenen Urlaub, Blumenkübel mit verendeten Pflanzen, allerlei altertümliches Werkzeug, eine Sammlung von Laternen, kitschige Schattenrisse aus Metall, Nummernschilder lange verschrotteter Motorräder, verlassene Vogelhäuser, eine Schiffsglocke, Zinkeimer mit und ohne Füllung, ein Aschenbecher aus einem Zugwaggon, eine Dartscheibe und ein Nachttopf. In der Scheune hing sogar noch eine Leine mit ausgebleichter Babykleidung und ebensolchem Kinderspielzeug, von dem Felix annahm, dass sie aus Anlass seiner Geburt befestigt worden war. Weggeschmissen wurde nichts mehr. Die Trödelsendungen im Fernsehen hatten auch in Gernhardt die Idee verankert, dass sein ganzer Ramsch noch etwas wert sei. Jeder Schrott bedeutete mit einem Mal einen unentdeckten Schatz von bisher unerkanntem Wert.

      Trotzdem befand sich das Grundstück für einen reinen Männerhaushalt in einem beinahe erträglichen Zustand. Was den Reiz ausmachte, stammte allerdings noch aus der Ära davor. Felix Mutter hatte sich in Ermangelung einer anderen Tätigkeit in der Gestaltung des Außengeländes verwirklicht. Ein stillgelegter Bauernhof bot dem geübten Auge ausreichend Material. So mussten Felix und sein Onkel schwitzend die steinernen Schweinetröge in den Hof schaffen, damit sie zum neuen Heim für Blumen und Kräuter werden konnten. Für Gernhardt waren die farbenprächtigen Gewächse nur Variationen von Unkraut. Aber er stellte schnell fest, dass es weniger zeit- und nervenaufreibend war, den Wünschen seiner Schwester zu entsprechen, als über Sinn und Nutzen der jeweiligen Tätigkeit zu diskutieren, um sie anschließend trotzdem auszuführen.

      Tibor hatte nie verstanden, weshalb sein Freund es vorgezogen hatte, bei dem alten Querkopf zu leben. Zugegeben, eine richtige Familie hatte Felix nie besessen, aber ausgerechnet Gernhardt? Onkel Leo war ein harter Knochen. Tibor hatte nicht lange gebraucht, um das festzustellen. Genau genommen war es einer der ersten Eindrücke gewesen, als er ihn kennenlernte. Felix verhielt sich damals in Gegenwart seines Onkels zurückhaltend, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten, denn Gernhardt konnte ihn mit einer einzigen ätzenden Bemerkung auf das Mindestmaß zurechtstutzen. Und dass er es gerne tat, sprach nicht unbedingt für ihn.

      “Da drüben vor der Scheune liegt ein toter Hund“, sagte Tibor leicht erschrocken.

      “Das ist Groucho, der schläft immer so.“

      Aus dem Wohnzimmer dröhnte der Fernseher in ohrenbetäubender Lautstärke. Leo Gernhardt saß in seinem alten, damals schon hässlichen Fernsehsessel und betrachtete mit ausdruckslosem Gesicht die Bilder eines Zugunglücks.

      “Leo, erinnerst du dich noch an Tibor Hendricks? Er ist hier, um seine alte Heimat zu besuchen.“

      Gernhardt drehte den Kopf und musterte Tibor. Sogar wenn er saß, wirkte er kernig und fit. Die Unterarme, die aus den hochgekrempelten Ärmeln seines karierten Arbeitshemdes hervorlugten, waren hart und sehnig. Doch das war nichts, verglichen mit seinem Gesicht. Eine steinerne, tief gefurchte Gebirgslandschaft mit zwei stechenden Augen. Das Auffälligste an ihm, damals wie heute, war jedoch der altmodische Backenbart. Diese endlos wuchernden Koteletten, die in grauen Büscheln bis in die Kinnpartie reichten und ihm etwas Wildes und Animalisches verliehen.

      “Lange nicht gesehen, wo hast du deine Haare gelassen?“, knurrte Gernhardt.

      Tibor klopfte hektisch die Taschen seines Anzugs ab. “Nanu, irgendwo müssen sie doch sein“, flüsterte er mit gespielter Panik.

      “Prima, noch so ein Spaßvogel“, murmelte Gernhardt und wandte sich wieder dem Fernseher zu. Für ihn war das Gespräch beendet. Er konnte sich nicht an Tibor erinnern. Die alten Schulfreunde seines Neffen existierten nur als diffuser, lärmender Schleier in seiner Erinnerung. Der Spruch mit den Haaren war ein Schuss ins Blaue gewesen, da die wenigsten Männer bereits in ihren Zwanzigern eine Glatze hatten. Jedenfalls nicht freiwillig. Aber war Tibor nun der trockene Alkoholiker, der um das Sorgerecht für seine Tochter kämpfte, oder der Trottel, der seit Jahren vergeblich versuchte, eine richtige Fernsehshow zu bekommen? Die Geschichten kreisten in seinem Kopf unsortiert durcheinander. Felix hielt ihn immer auf dem Laufenden und er nickte nur dazu, als würden ihm die Namen wirklich etwas sagen.

      “Er hat sich überhaupt nicht verändert“, bemerkte Tibor, als sie nach oben gingen.

      “Er ist älter geworden.“

      Felix Zimmer war eingerichtet wie eine Studentenbude. Die beneidenswerte Unbekümmertheit, mit der alle Gegenstände wie durch Zentrifugalkraft im Raum verteilt waren, zauberte ein Lächeln auf Tibors Gesicht. Sie waren im Begriff, sich zu setzen, als o

      “FELIX!“ Für gewöhnlich sprach Leo Gernhardt mit einer leisen, heiseren Stimme, die seltsam abgehackt klang, so als würde ihm gegen Ende jedes Satzes der Atem zum Weitersprechen fehlen. Doch diesmal schien er über ausreichend Luft zu verfügen.

      “Das ist mein Onkel“, erklärte Felix überflüssigerweise. “Ich sehe mal besser nach, was er wieder hat.“

      Tibor folgte ihm nach unten ins Wohnzimmer, wo Gernhardt mit hochrotem Gesicht saß und schimpfte. “Ich habe immer gesagt, dass es nicht gut geht, ich hab es von Anfang an gesagt, aber auf mich hört ja keiner.“

      “Was ist denn?“

      “oman kriegt die Natur einfach nicht aus den Viechern raus, aber das interessiert ja keinen, bis er eines Tages jemanden zerfleischt. Verfluchter Köter.“

      “Was ist denn los? Haben wir wieder zu viel Jod im Trinkwasser?“, fragte Felix und blickte zu Groucho, der träge in der Ecke lag.

      “Red nicht solchen Mist!“

      “Was ist passiert?“

      “Was passiert ist? Der verdammte Köter hat meine Blutdruckpillen gefressen.“

      “Sie werden ihm schon nicht schaden.“

      “Wen interessiert der Hund? Mir wird es schaden. Ich brauche diese Pille, sonst schießen meine Werte in die Wolken.“

      “Ich glaube, er steigt schon“, bemerkte Felix.

      “Dann besorge mir eine Pille.“

      “Woher?“

      “Aus meinem Nachtisch, woher sonst? Muss man dir denn jeden Handgriff erklären? Bring gleich zwei mit, ich glaube, die werde ich brauchen“, rief Gernhardt seinem Neffen hinterher, dann erst merkte er, dass er sich allein mit Tibor im Wohnzimmer befand. Er hatte keine Lust auf Small Talk. Momentan nicht und auch sonst nie.

      “Ginsberg hat sich inzwischen ganz schön herausgemacht“, bemerkte Tibor, um nicht weiter peinlich berührt im Raum stehen zu müssen. Er betrachtete einen gerahmten Zeitungsausschnitt an der Wand mit einem Bild von Garth und Gernhardt bei der Bürgermeisterwahl. Garth hatte damals mit überwältigender Mehrheit gewonnen und Gernhardt konnte nach Hause gehen. Ginsberg hat den Fortschritt gewählt, protzte die Überschrift.

      Gernhardt gab einen missmutigen Ton von sich. “Lass dich von der friedlichen Oberfläche nicht täuschen. Hier geht es zu wie im Wilden Westen.“

      Felix kam zurück und drückte seinem Onkel zwei Pillen in die Hand, die dieser trocken herunterschluckte.

      “Ich