Zucker im Tank. Andreas Zwengel

Читать онлайн.
Название Zucker im Tank
Автор произведения Andreas Zwengel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783962860226



Скачать книгу

legte die Presseerklärung auf den Kopierer und tippte eine dreistellige Zahl ein.

      “Gib die Kopien Villeroy, sobald er kommt“, sagte Chloe im Vorübergehen, “und wenn etwas Wichtiges passiert, will ich sofort darüber informiert werden.“ Sie nahm einen Telefonhörer, den Alex ihr heftig gestikulierend entgegenstreckte.

      Kapitel Drei

      Der Volvo erwies sich als wesentlich rüstiger, als er von außen gewirkt hatte, und Tibor Hendricks war es gewohnt, Fahrzeuge bis an ihre Grenzen zu treiben. Er hatte einen unauffälligen Wagen verlangt, um nicht wie ein Angeber zu wirken, der eine pompöse Rückkehr inszenieren wollte. Wenn er allerdings auf ein gutes Verhältnis mit seinen ehemaligen Mitschülern und Nachbarn aus gewesen wäre, hätte er am besten ganz auf diese Reise verzichtet. Tibor bereitete sich innerlich auf die Ankunft in seinem Heimatort vor. Er hatte Ginsberg vor acht Jahren verlassen. Ohne Ziel, aber mit dem festen Vorsatz, nie wieder zurückzukehren. Seine Eltern hatten ihn ziehen lassen und als einzige Bedingung gestellt, dass er sich regelmäßig bei ihnen meldete. Es war ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit gewesen, als er damals mit dem vollgeladenen Golf das Ortsschild passiert hatte. Er konnte überall hin und alles tun. Selbst unter ungünstigsten Bedingungen sollte sein finanzielles Polster für mindestens ein Jahr Sorglosigkeit ausreichen.

      Den ersten Tag war er durchgefahren, um Distanz zu schaffen. Während seine Altersgenossen mit Lehre oder Studium beschäftigt waren, brauste er Richtung Süden mit der Absicht, ein tolles und erfolgreiches Leben zu führen. Was hatte er für unglaubliche Pläne gehabt, als er Ginsberg verließ. Er wollte die Welt bereisen, ein Jahr lang in einem Campingwagen am Strand leben oder auf einem Berg. Er wollte zur See fahren, mit dem Zug durch den Orient bummeln, den Amazonas entlang schippern, durch Europa trampen, Afrika durchqueren, zum Mond fliegen. Das Übliche eben.

      Seinen Eltern schickte er stapelweise Ansichtskarten, aber bei seinen wöchentlichen Anrufen merkte er eine leichte Ungeduld, die sich durch immer weniger subtile Erkundigungen nach seinen weiteren Plänen äußerte. Tibor hatte für sich selbst ausgeschlossen, seine Ersparnisse zu verprassen und anschließend reumütig in den Schoß der Familie zurückzukehren. Das wollte er ausdrücklich als persönliche Bankrotterklärung verstanden wissen. Also brauchte er einen Erfolg. Möglichst schnell und möglichst groß. Inwieweit ihm das mit seiner jetzigen Tätigkeit gelungen war, mochten andere entscheiden. Sein Therapeut hätte Tibors Rückkehr nach Ginsberg wohl eine Chance genannt, sein Innenleben genauer zu erforschen. Eine Leistung, die ihnen beiden bisher versagt geblieben war.

      Blaue Autobahnschilder wischten vorüber. Dahinter sah er die ICE-Strecke, die sich durch Hügel bohrte und auf Brücken die Täler überquerte. Bei Bad Camberg bog er von der A3 und nahm die Bundesstraße 8 bis Oberbrechen. Von dort aus ging es über kleine Landstraßen weiter, auf denen er sich prompt verirrte. Kein Wunder, denn kaum hatte er Auto fahren gelernt, war sein einziges Ziel gewesen, aus Ginsberg herauszukommen. Der Rückweg hatte ihn nie interessiert. Er wollte nicht anhalten, um sein Handy zu Hilfe zu nehmen, also fuhr er grob in die Richtung, in der er seinen Geburtsort vermutete. Bis auf den Hinweisschildern die ersten Ortsnamen auftauchten, die in seinem damaligen Mofaradius gelegen hatten. Allmählich wirkte die Umgebung vertrauter.

      Der Abzweig nach Ginsberg lag immer noch so versteckt wie damals. Besucher waren wohl immer noch nicht erwünscht. Aber heute fuhren Fahrer mit Routenplaner und fanden deshalb ihr Ziel. Er bog auf die kurvenreiche Straße ein, die parallel zum Fluss in den Ort führte. Die Schönheit des Tals berührte ihn. Er war sicher mehrere tausendmal diese Strecke gefahren, aber als Kind hatte er sie nicht wahrgenommen oder sie für selbstverständlich genommen und geglaubt, es würde überall so aussehen. Inzwischen wusste er es besser, und obwohl er erst siebenundzwanzig war, konnte er sich für Naturschönheit begeistern und wusste zu schätzen, in welcher Idylle er aufgewachsen war.

      Tibor fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel und zuckte zusammen, als er die beiden Stellen berührte, an denen er sich am Morgen beim Rasieren geschnitten hatte. Ein Zeichen der Nervosität, die er sich nicht eingestehen wollte.

      Entgegen seiner Gewohnheit hatte er das Radio eingeschaltet: sehr viel Grauenvolles, wenig Erträgliches und nichts wirklich Gutes dabei. Dasselbe galt für die Musik. Entweder aktueller Schrott oder bewährte Klassiker, die jeder schon hunderttausendfach gehört hatte. Aber wenn man die ganzen Jingles der Eigenwerbung nicht dazurechnete, blieb ohnehin nicht viel Musik übrig. Obwohl kurz vor dem Ziel, musste er wieder einmal den Sender wechseln, weshalb ihn der Krankenwagen, der mit Blaulicht und Sirene auf seiner Straßenseite durch die Kurve schoss, kalt erwischte. Fluchend verriss Tibor das Steuer des Volvos und hätte um ein Haar das Ortsschild von Ginsberg gerammt. Im buchstäblich letzten Augenblick kam er auf dem Schotterstreifen am Straßenrand zum Stehen und würgte vor lauter Erleichterung den Motor ab. Mit bebenden Händen zündete er eine Zigarette an, lehnte sich in seinen Sitz zurück und betrachtete nachdenklich das gelbe Schild vor seiner Motorhaube. Tibor wollte nicht an böse Vorzeichen glauben.

      Er schnippte die Zigarette im Aschenbecher ab und stieg aus. Der milde Wind kühlte seinen Rücken, wo das Hemd auf der Haut klebte. Er betrachtete die Ansammlung von Menschen und Fahrzeugen. Feuerwehr, Rotes Kreuz, Polizei und unzählige Privatfahrzeuge standen dicht gedrängt auf dem schmalen Feldweg zwischen Straße und Fluss. Tibor konnte das Gerippe eines Schuppens erkennen, von dem noch eine dünne Rauchsäule aufstieg. Ein stetiger Strom von Dorfbewohnern pilgerte die Hauptstraße entlang, um sich das Ereignis anzusehen. Einige musterten ihn neugierig und gingen weiter, die Brandstelle erschien ihnen momentan interessanter. Tibor sah viele Bekannte von früher, aber er hatte sich wohl zu sehr verändert, um von ihnen erkannt zu werden. Tatsächlich bestand nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem Foto in seinem Führerschein, denn Haarausfall und eine teure Garderobe konnten das Erscheinungsbild eines Menschen nachhaltig verändern. Außer seinen Haaren fehlten auch etwa ein halber Zentner Gewicht und eine bereits damals unmodische Brille.

      Ein weiterer Krankenwagen kämpfte sich mit heulender Sirene zur Straße hinunter und trieb die Schaulustigen auseinander. Obwohl Tibor Katastrophentourismus verabscheute, ging er auf die Brandstelle zu. Die Polizei hatte die Reste des Schuppens abgesperrt. Die Umstehenden reckten die Hälse, um nicht die kleinste Kleinigkeit zu verpassen. Die Gesichter wirkten verstört, was Tibor bestätigte, dass hier mehr geschehen war als ein simpler Brand. Seine Versuche, ebenfalls einen Blick auf den Schuppen zu werfen, scheiterten an seiner recht bescheidenen Körpergröße. Auf der Suche nach einer Lücke wanderte er hinter den Zuschauerreihen entlang, doch jeder freie Platz war besetzt. Tibor schob sich eine neue Zigarette zwischen die Lippen und wollte gerade sein Feuerzeug an deren Ende halten, als er bemerkte, wie ein Feuerwehrmann wortlos den Trichter eines Feuerlöschers auf ihn richtete. Mit einer entschuldigenden Geste steckte er die Zigarette wieder ein.

      “Hallo Tibor“, sagte eine vertraute Stimme hinter ihm. Er wandte sich überrascht um. Felix Gernhardt lehnte lässig an einem Geländewagen, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und grinste von Ohr zu Ohr.

      “Felix, du meine Güte.“ Tibor war überrascht und erfreut zugleich. Er nahm die Sonnenbrille ab, als würde dies seinen Blick schärfen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, nach so vielen Jahren den besten Freund aus seiner Jugend wiederzusehen. In der ersten Zeit nach seiner Abreise hatten sie sich zwar ein paar Mal geschrieben und gelegentlich telefoniert, aber nach einer Weile war der Kontakt eingeschlafen.

      Felix sah wüst aus: Sein strähniges Haar ließ das Gesicht nur erahnen, aber was an Haut sichtbar war, ließ darauf schließen, dass er viel Zeit unter freiem Himmel verbrachte. Er trug ein Batikhemd, abgeschnittene Cordhosen und klobige Arbeitsschuhe. Die Sachen schienen billig gekauft und lange getragen. An manchen Menschen gingen Trends spurlos vorüber, bis sie manchmal das Glück hatten, dass die eigene Kleidung wieder in Mode kam. Aber der Felix, den er gekannt hatte, war an der Welt vor seiner Tür ohnehin nie sonderlich interessiert gewesen, solange die Welt ihm das gleiche Desinteresse entgegenbrachte.

      “Scheiße, Tibor, wie siehst du denn aus“, kam ihm Felix zuvor und wischte sich eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn, “bist du unter die Banker gegangen?“

      “So ähnlich.“

      “Und