Kürschners Volkshandbuch Deutscher Bundestag. Группа авторов

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Название Kürschners Volkshandbuch Deutscher Bundestag
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Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783958791404



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Initiativen von besonderem Gewicht zu starten. Andererseits ist jede Fraktion faktisch auch ein herausgebrochener Teil jener Partei, der ihre Mitglieder angehören. Bei den Fraktionen von SPD, AfD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen ist das leicht ersichtlich. Für die CDU/CSU-Fraktion ist erst zu Beginn jeder Wahlperiode ein neuer Beschluss von CDU und CSU nötig, sich zu einer Fraktionsgemeinschaft zusammenzuschließen. Das ist so lange möglich, wie die beiden Parteien in keinem Bundesland gegeneinander antreten und gleichgerichtete Ziele verfolgen.

      Das Parlament des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern hat 71 Abgeordnete. Fast so viele Abgeordnete stellen im Bundestag allein die Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen mit 67 Abgeordneten und Die Linke mit 69 Abgeordneten. Alle anderen Fraktionen liegen noch deutlich darüber. Der größte deutsche Landtag in Nordrhein-Westfalen besteht aus 199 Abgeordneten. Allein die Unionsfraktion im Bundestag besteht jedoch aus 246 Abgeordneten. Schon von diesen Zahlen liegt es daher nahe, dass sich auch innerhalb einer Fraktion im Bundestag unterschiedliche Gruppierungen wiederfinden. Da gibt es die Gruppe der Frauen oder die Gruppe der jungen Abgeordneten, es gibt Zusammenschlüsse entlang politischer Strömungen und solche entsprechend der Landsmannschaften. In allererster Linie beziehen sich die fraktionsinternen Strukturen aber auf Arbeitsgruppen und Arbeitskreise, in denen sich Sozialpolitiker genauso verbinden wie Wirtschaftspolitiker, Finanzpolitiker oder Innenpolitiker. Diese Gremien leisten wichtige Schrittmacherfunktionen und prägen Meinungen und Einstellungen der Kollegen. Sie schlagen ihrer eigenen Fraktion Positionierungen vor, tragen diese in die Detailberatung der Fachausschüsse und koppeln von dort den Beratungsfortschritt zurück in die Fraktion, damit diese rechtzeitig eine einheitliche Meinung festlegen kann.

      Natürlich wäre es theoretisch möglich, dass sich alle 709 Abgeordneten allein als Vertreter des ganzen Volkes entsprechend den grundgesetzlichen Vorgaben aus Artikel 38 unbeeinflusst von irgendwelchen Gremien eine Meinung bilden. Aber ist es realistisch, dass sich jeder Abgeordnete in jedes von mehreren tausend Gesetzen mit seinen Hintergründen, Problemen, alternativen Lösungen und Perspektiven einarbeitet? Da ist es schon einfacher, sich innerhalb einer Gruppe von im Grundsatz gleichgesinnten Abgeordneten arbeitsteilig professionell aufzustellen und dem Fachwissen der politisch befreundeten Kollegen zu vertrauen, so wie sich diese auf die Empfehlungen unserer Beispielabgeordneten auf ihren Fachgebieten verlassen.

       Der unscharfe Begriff „Fraktionszwang“

      Im Laufe dieses Meinungsbildungsprozesses zu jedem einzelnen Gesetzentwurf bildet sich innerhalb jeder Fraktion eine Empfehlung heraus, über die dann abgestimmt wird und deren Mehrheitsentscheidung in der Regel von allen Fraktionsangehörigen akzeptiert werden soll. Das wird in der Öffentlichkeit häufig als „Fraktionszwang“ bezeichnet. Gerade bei umstrittenen Themen und knappen Mehrheiten im Parlament gibt es tatsächlich mehr oder weniger sanften Druck auf diejenigen, die sich entsprechend der Fraktionsregularien beim Fraktionsvorstand melden müssen, wenn sie von der Mehrheitsentscheidung abweichen wollen. Die „Abweichler“ werden dann möglicherweise verstärkt „bearbeitet“ und in „Beichtstuhlgesprächen“ unter vier Augen auf die Konsequenzen ihres Votums hingewiesen. Letztlich verbietet sich jedoch eben aufgrund von Artikel 38 und der darin garantierten Freiheit des Mandates, Abgeordnete zu einer bestimmten Stimmabgabe zu „zwingen“.

       Rund 90 Prozent der parlamentarischen Arbeit findet außerhalb des Plenums statt.

      Allerdings ist die oft zu hörende Kritik an möglichst einheitlicher Stimmabgabe von Abgeordneten einer Fraktion ebenfalls kritisch zu hinterfragen. Es gibt neben dem Artikel 38 zur Unabhängigkeit der Abgeordneten auch den Artikel 21, demzufolge die Parteien an der Willensbildung mitwirken. Wer Parteien also daran misst, was sie vor der Wahl ankündigen und nach der Wahl davon umsetzen, der sollte auch Verständnis dafür haben, dass Fraktionsführungen jeden einzelnen Abgeordneten von einer gemeinsam gefundenen Linie zu überzeugen versuchen. Und wer die Stabilität einer Regierung danach beurteilt, wie geschlossen sie von den sie tragenden Fraktionen unterstützt wird, der sollte sich auch nicht wundern, wenn die Fraktionsführungen ebenfalls auf diesen Aspekt achten. So greift vieles ineinander und entlarvt oft zu hörende Kritikmuster an bestimmten Vorgängen im Bundestag als in sich widersprüchlich.

       Das Arbeitsparlament

       . . . weil es ein Erlebnis besonderer Art ist, in der Kuppel bis ganz nach oben zu steigen.

      An dieser Stelle lässt sich auch die verbreitete Kritik an leeren Stühlen im Plenum während der meisten Routinedebatten aufgreifen. Wenn Medien die Bilder eines nur spärlich besetzten Plenarsaales mit kritischen Bemerkungen zum angeblich unterentwickelten Arbeitseifer von Abgeordneten veröffentlichen, ist diese Verurteilung nicht nur oberflächlich, sondern auch so lange wohlfeil, so lange nicht gleichzeitig die Pressetribüne gezeigt wird. Hier ist zumeist eine Parallelität zu beobachten. Füllen sich die für Medienvertreter reservierten Zuschauerränge mit Journalisten, sind zumeist auch darunter im Plenum die meisten Plätze besetzt. Geht es dagegen nicht um eine herausragend wichtige, aufwühlende und weichenstellende Beratung, sondern um die Abfolge von Debatten über einzelne Spezialnormen von wenig allgemeinem Interesse, gehen in der Regel sowohl die gerade nicht gefragten, also fachlich zuständigen Abgeordneten als auch die Journalisten außerhalb des Plenarsaales ihrer Arbeit nach.

      Der Bundestag darf nämlich nicht auf das Plenum verkürzt werden. Rund 90 Prozent der parlamentarischen Arbeit finden außerhalb statt. Deswegen ist er mit der Bezeichnung Arbeitsparlament insgesamt auch besser umschrieben als mit der eines Redeparlamentes. Sicherlich wäre eine bessere Präsenz des Plenums häufig wünschenswert. Doch Anwesenheitslisten werden nicht nur vor den Eingängen des Plenarsaales ausgelegt, sondern an vielen Stellen in den Häusern des Bundestages. Verschaffen wir uns einmal einen kleinen architektonischen Überblick.

       Gang durchs Parlamentsviertel

      Im Mittelpunkt steht das historische Reichstagsgebäude. Es gehört zu den attraktivsten touristischen Reisezielen, weil es ein Erlebnis besonderer Art ist, in der Kuppel bis ganz nach oben zu steigen und dabei stets neue Eindrücke von Berlins Mitte zu gewinnen. Zu DDR-Zeiten stand es dicht an der Mauer und wurde nach einer ersten Sanierung und Modernisierung Anfang der 70er Jahre bereits während der deutschen Teilung vom Bundestag für einzelne Gremiensitzungen und eine ständige Ausstellung über Fragen zur deutschen Geschichte genutzt. Die Verhüllung mit 100.000 Quadratmetern spezialbeschichtetem, leicht silbern glänzendem Stoff durch das Künstlerpaar Christo und Jean-Claude markierte 1995 einen weltweit beachteten Neuanfang.

      Daraus wurde der vierte Plenarsaal in der Geschichte des Bundestages – nach den ersten Jahrzehnten – alle in Bonn – im Bauhausstil der ehemaligen Pädagogischen Akademie, dem nachfolgenden Provisorium im früheren Wasserwerk und schließlich dem kreisrunden Neubau, der 1992 fertig wurde – und damit über ein Jahr nach dem Beschluss des Parlamentes, nach Berlin zu ziehen. Und zwar in das historische Reichstagsgebäude, das nach den Plänen des Architekten Paul Wallot bis 1894 errichtet worden war und sowohl das Parlament des Kaiserreiches als auch das der Weimarer Republik erlebte, bis es Ende Februar 1933 in Flammen aufging.

      Bis zum Umzug von Parlament und Regierung im Jahr 1999 wurde das Gebäude erneut entkernt und – mit besonderem Respekt vor der historischen Bausubstanz – unter der Regie des britischen Architekten Norman Foster an die Bedürfnisse eines modernen und transparenten Parlamentes angepasst. Die Gleichzeitigkeit von traditionellem Erbe und zeitgemäßen Ergänzungen kommt auch in zwei Widmungen zum Ausdruck. Ende 1916 waren aus eingeschmolzenen Kanonen die Buchstaben „DEM DEUTSCHEN VOLKE“ gegossen und auf dem Westgiebel angebracht worden. Sie bilden für Tagesbesucher auch heute noch die Begrüßung. Hinzu gekommen ist ein Projekt des Künstlers Hans Haacke im nördlichen Innenhof. In einem großen rechteckigen Trog sind hier die Buchstaben „DER BEVÖLKERUNG“ montiert. Rings umher wächst und wuchert es aus Erde, die Abgeordnete aus ihren Wahlkreisen mit nach Berlin brachten.

       . . . sondern darüber hinaus weitere 111 Volksvertreter ihren Dienst antraten.