Название | "Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht" |
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Автор произведения | Christina Seidel |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783954627943 |
Ich bin die prächtige Marszałkowska-Straße entlanggegangen und habe Zettel verteilt: Junge absolvierte Gymnasiastin unterrichtet Französisch, Arithmetik, Naturwissenschaften …
1885
Montag, 2. Februar
Seit einem Monat verdiene ich durch Unterrichten Geld.
Laufe kreuz und quer durch die Stadt, von einem Schüler zum anderen. Schneegriesel im Gesicht, die Füße kalt, der Frost dringt durch die Handschuhe. Schaue sehnsüchtig der Pferdebahn hinterher … Sie sind faul und dumm, die Kinder der Reichen. Spielen lieber mit Puppen oder Soldaten, stehen stundenlang vor dem Spiegel, hecken dumme Streiche aus. Vielleicht nicht alle, aber meine Pappenheimer auf jeden Fall … Kein Interesse für die Wunder der Wissenschaft. Ihre Eltern lassen mich im Vorzimmer ewig warten, behandeln mich wie eine Untergebene, die ich ja auch wirklich bin, wie eine Abhängige, eine, die dankbar sein muss für jeden Rubel, den sie mir geben. Dabei musste ich sie gestern noch erinnern, mir meinen Lohn für den vergangenen Monat zu zahlen.
Wie erniedrigend …
Freitag, 13. Februar
Abergläubig bin ich nicht. Ich fürchte mich nicht vor Freitag dem 13. oder einer schwarzen Katze von rechts … Auch mein Glaube an Gott ist leider verloren gegangen.
Habe mich einer Gruppe »Positivisten« angeschlossen, um meinem Vaterland Polen zu helfen. Bronislawa Piasecka ist mir Freundin und Lehrerin zugleich. Sie ist wahrlich nicht hübsch zu nennen, hager, dünnes kurzes Haar, aber mit ihrem warmen Blick und ihrer wohlklingenden Stimme, mit der sie treffend und ohne Pathos neue Gedanken äußert, wirkt sie sehr anziehend auf mich. Die Welt wird nur besser werden, wenn sich die Individuen verbessern, ist einer ihrer Leitsätze. Zusammen mit Bronia sind wir an Vorlesungen der »Fliegenden Universität« zugelassen und bilden uns weiter in Anatomie, Naturgeschichte und Soziologie. Heimlich muss das geschehen. Entdeckt man uns, droht Gefängnis. Ich habe mich von meinem langen Haar getrennt …
Donnerstag, 5. März
Bronislawa hat mich gebeten, fünf Schneiderinnen, die in einem Atelier arbeiten, Unterricht zu erteilen. Unser Ziel, denjenigen zu helfen, denen wir am ehesten nützen können, kann ich hier gut umsetzen. Ich habe eine kleine polnische Bibliothek für sie zusammengestellt, lese ihnen vor, bringe ihnen Adam Mickiewicz und Juliusz Słowacki nahe, mache sie aber auch mit Goethe, Schiller und Shakespeare vertraut. Erzähle von Darwin und Pasteur. Die Frauen sind aufmerksam, aber ich darf sie nicht überfordern. Sie sind unwahrscheinlich dankbar, wollten bei mir schon mal Maß nehmen, um mir ein Kleid zu nähen. Ich konnte sie nur mit Mühe davon abhalten.
Montag, 30. März
Übe mich jetzt auch im Zeichnen, versuche La Fontaines Fabeln zu illustrieren …
Donnerstag, 14. Mai
Keinem offenbare ich meine schwärmerischen Neigungen, meine stille Freude an poetischen Liebesgedichten. Selbst Bronia würde mich verständnislos anschauen. Neulich haben wir uns in vertrauter Umarmung fotografieren lassen, das Bild Bronislawa geschenkt und quer darüber geschrieben: »Für eine ideale Positivistin von zwei positivistischen Idealistinnen.«
Dienstag, 2. Juni
Meine Schüler leiden einfach an einer schlechten Vorstellungsgabe. Ich habe ihnen aber erfolgreich das Hebelgesetz an einer Wippe erklärt. Den dicken Gregor so daraufgesetzt, dass ihn auch die kleine Olga hochkriegte.
Gewicht mal Lastarm auf der einen Seite ist gleich Kraft mal Kraftarm auf der anderen Seite. Ein Gewicht kann man leichter hochheben, wenn der Kraftarm auf der anderen Seite viel länger ist. So haben sie es endlich verstanden.
»Gib mir einen Punkt im All, und ich hebe die Erde aus den Angeln.«
Wie klug war Archimedes schon vor 2 000 Jahren!
Freitag, 14. August
»Ja, ich weiß, die Erde dreht sich«, sagte Tamara, eine meiner Schülerinnen, heute, »aber ich muss doch nicht verstehen warum!!! Und noch dazu in den Ferien.« Sie riss mir das Pendel, an dem ich es ihr demonstrieren wollte, aus der Hand, schwang es wie ein Lasso über den Kopf und ließ es davonfliegen. »Gehen wir baden, das macht mehr Spaß«, sagte sie und zog mich zur Weichsel hinunter. Spaß! Als ob wir nur zum Spaßhaben auf der Welt sind!
Freitag, 28. August
Bronia hat meinen Plan akzeptiert. Auch Vater ist der Meinung, dass sie als Ältere zuerst dran ist. Sie schleicht herum wie ein verwundeter Panther. Ihre Mutlosigkeit ist einfach nicht mehr anzusehen. Sie muss endlich an der Sorbonne Medizin studieren, was schon lange ihr sehnlichster Wunsch ist. Ich werde mich um eine Gouvernantenstelle bemühen und so ihr Studium mitfinanzieren. Wenn sie fertig ist und sich als Ärztin niederlässt, wird sie mich nachholen. Es wird nicht leicht werden, aber ich habe wieder ein Ziel!
Donnerstag, 3. September
Gerade vom Stellenvermittlungsbüro zurück. Meine Haare hatte ich wieder wachsen lassen, um Vertrauen zu erwecken. Meine Referenzen und Zeugnisse sind ausgezeichnet, meine Ansprüche nicht hoch, die Aussichten, schnell eine Anstellung zu kriegen, gut.
Donnerstag, 10. Dezember
An Cousine Henriette
Liebe Henriette, seit wir uns getrennt haben, habe ich das Leben einer Gefangenen geführt. Wie du weißt, habe ich eine Stellung in der Familie des Rechtsanwalts B. angenommen. Ein solches Höllenleben wünsche ich nicht meinem ärgsten Feind!
… Es ist eines jener reichen Häuser, wo man vor Gästen Französisch spricht – ein erbärmliches Französisch –, die Rechnungen ein halbes Jahr lang nicht bezahlt, aber das Geld aus dem Fenster hinauswirft und dabei an dem Petroleum für die Lampen spart. Es gibt fünf Dienstboten, man posiert auf Liberalismus. In Wirklichkeit aber herrscht finstere Dummheit. In süßestem Ton wird bösartiger Klatsch getrieben – ein Klatsch, der an keinem ein gutes Haar lässt.
Meine Kenntnis der Gattung Mensch hat sich hier sehr erweitert; ich habe gelernt, daß es die Personen, die in den Romanen beschrieben sind, wirklich gibt, und daß man mit Leuten, die der Reichtum moralisch heruntergebracht hat, nichts zu tun haben darf …
1886
Freitag, 1. Januar
Heute verlasse ich Warschau. Vielleicht für mehrere Jahre. Ich bin traurig und hoffnungsvoll zugleich. Habe eine Stelle als Hauslehrerin auf dem Gutshof Szczuki bei Przasnysz angenommen. Drei Bahn-, vier Pferdestunden weit entfernt. Meine Hoffnung, nahe bei meiner Familie Geld zu verdienen, hat sich zerschlagen. Auch die Abendkurse, die Vorlesungen bei der »Fliegenden Universität« muss ich aufgeben. Hier in Warschau ist von meinem ersten Monatsgehalt nicht genügend übriggeblieben, um Bronia in Paris im Quartier Latin zu unterstützen. Sie lebt dort in ganz bescheidenen Verhältnissen, und mein Versprechen muss ich halten.
Ich denke oft an Zawieprzyce. Wie schön kann es auf dem Land, in freier Natur sein. Achtzehn Jahre und Marek ist immer noch bei mir.
Es schneit in dichten Flocken, und mir fällt mal wieder Bauer Iwan aus »Schneeflöckchen« ein. Jede Freude hat ein Ende, aber auch der Kummer …
Mittwoch, 3. Februar
An Cousine Henriette
Jetzt bin ich seit einem Monat hier im Hause Z. Ich habe also Zeit gehabt, mich an die neue Umgebung