Название | "Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht" |
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Автор произведения | Christina Seidel |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783954627943 |
Meine Schwester Bronia hat die Schule mit einer Goldmedaille abgeschlossen. Nun führt sie den Haushalt und die Pension. Józef ist auch von der Schule mit einer Goldmedaille gegangen. Ich bin stolz auf meine klugen Geschwister und will ihnen nacheifern. Nur kochen, waschen, putzen, nein, das ist für mich verlorene Zeit.
Sonntag, 14. Dezember
Wie immer vor Weihnachten versammelten sich in Vaters Zimmer seine engsten Freunde. Sie debattierten so laut, dass ich es durch die geschlossene Tür hörte. Vater mahnte zur Stille, und sie fingen an zu flüstern. Zwei von ihnen waren wie Mas Bruder Henryk 1863 bei dem Aufstand gegen den Zaren dabei und sind heute noch froh, dass sie mit dem Leben davonkamen. Ich hasse es, mit doppelter Zunge reden zu müssen, nicht frei und offen meine Meinung sagen zu können. Wenn die Polen für ihre Freiheit wieder auf die Straße gehen, ich bin dabei. Doch Vater schärft uns immer wieder ein, vorsichtig zu sein. »Ehe du dich versiehst, landest du in einem Straflager in Russland«, droht er.
1880
Donnerstag, 5. Februar
Wir sind mal wieder umgezogen. Von der Nowolipkistraße in die Lesznostraße. Auch Marek hat den Umzug überstanden. Die neue Wohnung ist viel schöner. Vom Balkon sehe ich lauter kleine weiße Zipfelmützen. Der Schnee hat den Garten zugedeckt, und der Anblick ist lustig und friedlich zugleich. Im Sommer wird Wein an der Fassade und am Balkon hinaufranken. Ich stelle mir schon jetzt vor, wie ich hier sitze und lerne und immer mal wieder eine Weintraube nasche. Auch die Pensionäre werden mich nicht mehr so stören. Jedenfalls ist ihr Esszimmer nicht mehr mein Schlafzimmer.
Mittwoch, 17. März
Ich habe eine Freundin, der ich alles erzählen kann. Sie heißt Kazia Przyborowska, ihr Vater ist Bibliothekar beim Grafen Zamoyski. Ihre Familie wohnt im »Blauen Palast« des Grafen, der von einer Löwenfigur bewacht wird. Jeden Morgen hole ich Kazia dort ab. Bevor wir auf die breite Krakowskie Przedmiescie kommen, müssen wir den Sächsischen Platz überqueren mit dem hässlichen Obelisk, den der Zar nach dem Novemberaufstand dort errichten ließ. Klobig, mit grässlichen doppelköpfigen Adlern, höher als die Häuser ringsum. Er ist für die Polen errichtet, die während des Aufstandes dem Zaren treu blieben. Wenn wir uns unbeobachtet fühlen, spucken wir beim Vorübergehen auf das Denkmal. Im Palast auf dem Platz residierte einst unser König, jetzt sind Russen dort.
Auf der Krakowskie Przedmiescie geht es immer lebhaft zu. Wir müssen aufpassen, nicht überfahren zu werden von beladenen Fuhrwerken oder von prächtig polierten Kutschen oder von den Pferdewagen, die in der Mitte auf Schienen fahren. Unsere Schule befindet sich im ehemaligen Kloster der Visitantinnen im ersten Stockwerk. Im Erdgeschoss verkauft Herr Wosinski in seinem Geschäft Uhren aus Genf.
Donnerstag, 15. April
Mein Lieblingslehrer ist Professor Slosarski. Er unterrichtet Naturwissenschaften und führt uns, wie er es nennt, an die »Wunder der Welt« heran. »Du hängst ja an seinen Lippen«, hat Kazia mich heute geneckt. Aber ich sauge wirklich alles auf, was er sagt. Ich habe längst gemerkt, dass nicht alle russischen Lehrer unsere Feinde und Freunde des Zaren sind.
Heute hat er uns von Dmitri Mendelejew erzählt, der den Zusammenhang zwischen Atomgewicht und den Eigenschaften der chemischen Elemente entdeckt hat. Er ordnete alle bekannten Elemente in einer Tabelle an und nannte sie das Periodensystem. Mit diesem System konnte er sogar noch die Entdeckung neuer Elemente vorhersagen. In Paris hatte er sich dazu in seiner Wohnung ein kleines Labor eingerichtet und geforscht.
Mendelejew war wie Ma an Tuberkulose erkrankt, konnte aber auf der Insel Krim geheilt werden. Er war das jüngste von siebzehn Kindern und seine Familie war sehr arm.
Ich habe so große Hochachtung vor diesem Mann. Und einen Traum: Ein Labor in Paris!
Kazia verehrt Professor Gloß, der Mathematik unterrichtet. Sie ist sogar verknallt in ihn. Obwohl er ein Russe ist. Aber er ist klug, sieht auch noch wahnsinnig gut aus und schikaniert uns nicht.
Donnerstag, 20. Mai
Heute bin ich, wie so oft nach der Schule, noch mit zu Kazia gegangen und wir erledigten gemeinsam Hausaufgaben.
Ihr Zimmer ist viel schöner als meins, heller, freundlicher, ruhiger, keine nervigen Pensionäre und unfreundlichen Haushälterinnen. Aber mein Tagebuch nehme ich natürlich nicht mit dorthin. Das öffne ich erst hier zu Hause. Kazia würde mich mit ihrer Neugier nerven. »Was schreibst du da? Zeig doch mal!«
Aber ihre Mutter verwöhnt uns mit Limonade und Schokoladeneis. Auch meine Ma hat mich oft verwöhnt. Sie fehlt mir so sehr. Fast genau auf den Tag vor zwei Jahren ist sie gestorben. Meine Ma …
1881
Dienstag, 15. März
Heute habe ich mich so gefreut, dass ich nicht an Vaters Ermahnungen gedacht habe, vorsichtig zu sein, und mit Kazia einen Freudentanz auf dem Schulhof aufführte. Das wäre beinahe schief gegangen.
Zar Alexander II. ist tot. Eine Dose mit Dynamit hat seine Kutsche getroffen. Er ist ausgestiegen, weitergelaufen, und dann hat ein Student ihm noch eine Sprengbombe vor die Füße geworfen.
Fräulein Mayer, die mich sowieso nicht leiden kann, sah uns tanzen. Warum wir tanzen, hat sie gefragt. »Weil uns nach tanzen zumute ist«, hab ich gesagt. Sie hat geschrien: »Ob wir denn nicht gehört hätten, dass heute der Zar ermordet und Staatstrauer angesagt ist?« Wir haben ihr den Rücken zugedreht und sind gegangen. Vielleicht wird unser Land nun befreit? Oder kommt ein neuer Zar? Ich hoffe sehr, dass unser Leben freier und besser wird!
Dienstag, 29. März
Ein neuer Zar. Alexander III. Alles Wünschen vergebens …
24. Dezember
Wie haben wir uns alle auf das Weihnachtsfest gefreut! Es beginnt bei uns, wenn der erste Stern abends aufgeht. Dann ist auch das Fasten zu Ende und eine große, bunt bedruckte, eckige Oblate wird gebrochen und verteilt. Weil alle in der Familie das Leben miteinander in Liebe teilen wollen. Gerade Weihnachten fehlt Ma am meisten.
Bronia und Tante Lucia haben den Baum geschmückt. Silbern glänzende Kugeln, silbernes Lametta und weiße Kerzen. »Schlicht und schön, so soll er stehen«, hat Vater gesagt. Auf dem festlich gedeckten Tisch wird jedes Jahr auch ein Gedeck aufgelegt für einen unerwarteten Gast. Tante Lucia sagt, die Heilige Familie könnte ja anklopfen. Aber es ist bisher noch nie passiert und außer Tante Lucia glaubt wohl keiner bei uns daran. Unter dem Tisch liegt immer ein kleiner Ballen Stroh, aus dem sich jeder einen Halm zieht. Józef hat den längsten gezogen und man sagt, er wird nun auch am längsten leben. Im vorigen Jahr hatte Vater den längsten gezogen. Er hat mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: »Das wäre ja furchtbar, wenn ich euch alle überlebe …«
Unter dem Tisch Stroh, aber auf dem Tisch … Ich habe gedacht, der muss zusammenkrachen von dem Gewicht. Karpfen in Biersauce, unseren polnischen Borschtsch, Piroggen, Hering in Öl, Bratfisch und Fisch in Aspik, Krautgerichte und Gemüsesalate. Mohnkuchen … Ich konnte fast nichts essen, vor lauter Aufregung und warten auf den Sternenmann. Ich habe ein Tabellenbuch bekommen, mit allen 66 bisher bekannten Elementen, periodisch angeordnet nach Mendelejew. Vater war der Sternenmann und ich bin ihm vor Freude um den Hals gefallen.
1. Weihnachtsfeiertag
Fast bis Mitternacht haben wir gestern kolędy, Weihnachtslieder, gesungen und sind dann zur pasterka, der Hirtenwache, in die Kirche gegangen. Es war eiskalt, der Himmel sternenklar, der Schnee knirschte unter unseren Schuhen und die Glocken begannen zu läuten. Eine heilige Nacht, die ich sicher nie vergessen werde.
1883
Freitag,