Название | "Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht" |
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Автор произведения | Christina Seidel |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783954627943 |
Donnerstag, 25. Mai
In der Schule müssen wir russisch sprechen. Befehl vom Zaren. Bei Fräulein Sikorska lernen wir auch polnisch. Aber das ist ein Geheimnis.
Heute kam Inspektor Hornberg in die Schule. Unerwartet. Die Glocke hat geläutet und uns gewarnt. Fünf Mädchen haben die polnischen Lehrbücher in ihren Schürzen in den Schlafsaal getragen. Unser Fräulein war rot vor Aufregung. »Maria, steh auf und nenne die Ahnentafel der russischen Zaren«, verlangte sie. Ich kann die russische Sprache am besten. Der Inspektor wollte, dass ich ein russisches Gebet aufsage. Mein Herz war ganz hart dabei, aber das konnte keiner sehen.
Montag, 12. Juni, in Marki
Wir haben Ferien. Vater hat mich zu den Großeltern Boguski aufs Land gebracht. Oma und Opa haben dort einen kleinen Gutshof. Am liebsten bin ich bei den Kaninchen. Zwei Kätzchen sind auch da. Morle und Weißchen. Wenn ich Milch bringe, lassen sie sich kraulen.
Freitag, 7. Juli
Hier ist so viel los, dass ich mein Tagebuch fast vergesse. Es ist Ernte und ich helfe mit. Abends bin ich dann so müde, dass ich gar nicht mehr nachdenken kann.
Heute gab es mit süßem Quark gefüllte Piroggen. Mein Lieblingsgericht.
Samstag, 15. Juli
Gestern hat Großmutter gesagt: »Deine Eltern werden aber staunen, wenn du nach Hause kommst. Die Landluft tut dir gut.«
Ma ist wieder zur Kur. In Salzbrunn in Schlesien. Wir hoffen alle, dass sie dort endlich geheilt wird.
Ich bin braun und noch ein bisschen pummliger geworden. »Du isst ja auch wie ein Scheunendrescher«, sagt Großvater. Karol, der Knecht, ist ein Scheunendrescher. In der Scheune drischt er mit einem Flegel auf das Getreide ein. Klar, dass man davon Hunger kriegt.
Mir schmeckt der Nachtisch am besten. Selbstgepflückte Heidelbeeren oder Brombeeren mit Milch und Zucker. »Den ganzen Tag an der frischen Luft«, hat Großmutter gesagt, »da muss man ja Appetit kriegen. Hau nur tüchtig rein, meine Kleine.« Sie drückte mich so fest, dass ich kaum Luft bekam.
Samstag, 26. August
Heute will mich Vater abholen. Ich freue mich auf Bronia, Józef, Hela, Vater und besonders auf meine Ma. Und auf die Schule. Ich will lernen, viel und gut und einfach alles. Aber auch Kätzchen zum Streicheln haben und von Ma geküsst werden.
Ich denke so oft an Zosia. Ein Platz, der leer und doch besetzt ist.
Aber das schreibe ich nur in mein Tagebuch. Ma soll nicht traurig sein.
Mittwoch, 30. August, nach dem Gebet
»Lass unsere Ma wieder gesund werden«, beten wir alle jeden Abend. Ma ist zurück von der Kur. Aber nicht geheilt. Sie sieht so dünn und bleich aus. Ihre Augen blicken traurig. Ich habe Angst um sie.
»Fahr auch mal zu den Großeltern«, habe ich zu ihr gesagt. »Dort wird man gesund.« Wenigstens hat sie mir zugelächelt.
Freitag, 15. September
Ma geht es besser. Sie hat sogar wieder Schuhe gefertigt. Obwohl sie ganz schmale Finger hat, schneidet sie Sohlen zu. Sie führt die Ahle mit dem Pechfaden durch das Leder. Dabei singt sie. Von einer schönen Müllerin. Ich habe Ma ewig nicht so singen gehört. Mein Herz sang mit.
Ein gutes Ende für mein erstes Tagebuch. Mein blausamtenes Tagebuch. Bald werde ich neun Jahre alt. Zum Geburtstag wünsche ich mir ein neues.
1879
Freitag, 7. November
»Du bist aber groß geworden«, sagen alle, wenn sie mich lange nicht gesehen haben. So ein Unsinn, Kinder werden eben immer größer. »Und hübsch dazu«, finden sie. Nein, hübsch finde ich mich nicht. Mira aus meiner Klasse ist hübsch, mit ihrem schwarzen Haar und den großen dunklen Augen. Wollen sie mir schmeicheln, wenn sie sagen, ich sei hübsch? Ich bin 1,45 Meter groß, immer noch zu pummlig und meine Haare lassen sich kaum bändigen. Mehr gibt’s zu meinem Äußeren nicht zu sagen. Busen habe ich noch keinen, muss auch nicht sein.
Geburtstag habe ich heute natürlich auch noch. »Damit du nicht immer nur bei deinen Büchern hockst«, hat Bronia gesagt, gelacht und hinter dem Rücken ihr Geschenk, ein neues Tagebuch, hervorgeholt. Der rote Ledereinband ist viel zu auffällig, ich werde es mit Packpapier einschlagen.
Oh, wie lange habe ich nichts aufgeschrieben. Aber nichts vergessen in den drei Jahren.
Zuerst fällt mir meine Ma ein. Wie schrecklich, schrecklich, schrecklich, schrecklich! Im Mai vorigen Jahres ist sie gestorben. Es war wie bei Zosia. Ein Tag, an dem eigentlich nichts Böses geschehen kann. Sonnenschein, Vogelsang – und dann stand die Welt still.
In der Kirche habe ich stumm mit Gott gesprochen. Ich war wütend, traurig, vorwurfsvoll und habe immer wieder gefragt: Warum? Warum Zosia, warum meine Ma? Ich konnte Gott nicht erreichen. Kein Laut von ihm drang an mein Ohr.
Auch das Klavier im Wohnzimmer schwieg. Selbst Marek, mein Bär, war kein Trost für mich.
Bauer Iwan aus meinem Lieblingsmärchen Schneeflöckchen hätte gesagt: Die Freude ist nicht ewig, so wie der Kummer nicht unendlich ist! Manchmal denke ich immer noch, Ma ist nur zur Kur und ich muss ihr schreiben. Aber wohin? Hier, in mein Buch!
Meine liebste Ma, der November in Warschau ist grau und windig. Aber wir haben es bei uns im Zimmer warm und die Kerze flackert hell. Nur in meinem Herzen ist so eine Kälte und Finsternis, die nicht weichen will. Keiner traut sich, von dir zu reden, aus Angst, dass ein großes Weinen beginnt. So sitzen wir mitunter stumm und schauen aus dem Fenster oder in das Licht der Kerze und denken an dich. Mein Blick ist verschleiert und ich kann die Schrift nicht mehr erkennen. Vielleicht aber kannst du unsere Gedanken auffangen und wenn ja, dann bitte schicke uns wenigstens ein Zeichen oder noch besser deine Adresse. Das wäre mein schönstes Geburtstagsgeschenk.
Sonntag, 9. November
Unsinn, Zeichen und Adresse von meiner Ma! Maria, wie konntest du dir nur so etwas wünschen? Manchmal verstehe ich mich selbst nicht und schüttle über mich den Kopf.
Dann wieder denke ich, wünschen und hoffen kann man doch so viel und so oft man will. Das kann mir keiner verbieten. Und wenn ich es keinem sage, kann mich auch keiner verrückt nennen.
Ein Sonnenstrahl fällt auf mein Tagebuch. Vielleicht ist das ein kleines Zeichen von meiner Ma. Sie wird von irgendwoher auf mich schauen. Ich möchte mich an den Sonnenstrahl klammern wie an eine Hoffnung.
Samstag, 22. November
Der November ist ein guter Monat zum Lesen, Lernen, Schreiben. Kein Sonnenstrahl lenkt ab. Ich kann mich einigeln, alles um mich herum vergessen. Mein Lieblingsmonat. Ich bin ein Novemberkind.
Im vergangenen Herbst habe ich die Schule gewechselt und gehe nun aufs kaiserliche Gymnasium Nummer Drei. Hier müssen wir auch in der Pause russisch sprechen und selbst Polnischunterricht wird auf Russisch geführt. Wir werden verdächtigt und bespitzelt. »Aber nur auf einem staatlichen Gymnasium kannst du das Zeugnis erhalten, das du später