"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

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Название "Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht"
Автор произведения Christina Seidel
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954627943



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Ich fungierte als Frisöse, denn ich kämmte die Mädchen für den Abend, und zwar sehr gut. Die anderen kamen gegen acht, unterwegs ist so einiges passiert, wir haben die Musikanten verloren und wiedergefunden, eine Kutsche ist umgekippt.

       Man teilte mir meine Nominierung zur »Braut« mit und stellte mir den »Bräutigam« vor, einen sehr gut aussehenden, schicken Krakauer. Der Kulig gelang einzigartig. Wir tanzten am hellen Tag um acht Uhr Mazurka, und es war so fröhlich wie am Anfang. Sechzehn Paare. Wir haben den herrlichen Oberek mit seinen Figuren getanzt, und du mußt wissen, daß ich ausgezeichnet Walzer tanzen gelernt habe, ich hatte einige Touren im voraus vergeben. Wenn ich herausging, um mich auszuruhen, warteten sie an der Tür auf mich.

       Donnerstag, 3. April

      Ein unverhofftes Glück … Unsere Ferien gehen weiter. Eine ehemalige Schülerin unserer Ma, die Gräfin de Fleury, hat meiner Schwester Hela und mir einen Sommerurlaub auf ihrem Landsitz Kępa angeboten. Langsam gewöhne ich mich an das faule, fröhliche Leben.

       Samstag, 12. April, in Kępa

      Wir sind wieder erst mit der Bahn, aber diesmal nördlich von Warschau bis Małkinia gefahren. Am Bahnhof stand eine prachtvolle Kutsche mit vier Pferden und einem Kutscher in blauer Livree für uns bereit.

      Der Landsitz sieht aus wie ein kleines Schloss und ist von einem wunderschönen Garten umgeben, nah bei einem Eichen- und Lindenhain. Unsere Zimmer sind groß und hell, und die freundliche Haushälterin Frau Rogowska verwöhnt uns schon morgens mit Semmeln, Keksen, Butter, Honig und Marmelade.

      Zwei Flüsse stoßen in Kępa zusammen: Narew und Biebrza, aber zum Baden ist das Wasser noch viel zu kalt.

       Sonntag, 15. Juni

       Brief an Kazia

       Jetzt sind wir schon einige Wochen in Kępa, ich müßte dir unser Leben hier beschreiben, aber ich habe keine Kraft dazu, sondern sage dir nur, daß es wunderbar ist!

       Wir machen alles, was uns einfällt, mal schlafen wir nachts, mal am Tage, wir tanzen und machen überhaupt solche Dummheiten, daß wir es manchmal verdienten, ins Irrenhaus geschickt zu werden.

       Sonntag, 20. Juli

      Hela und ich plündern die Kirschbäume, pflücken Himbeeren und suchen Pilze. Wir schwimmen und fahren Boot. Jan Moniuszko, der Bruder der Gräfin, er ist 27 Jahre alt und ein bisschen dick, bringt mir das Rudern bei.

      Zu jedem Essen trinkt er einen Viertelliter Milch. Wir haben uns einen Spaß mit ihm erlaubt und jedes Mal seine Milch verdünnt. Es hat ziemlich lange gedauert, bis er misstrauisch wurde und sich beklagte, dass die Milch grau aussehe und nicht mehr schmecke. Die Gräfin hat einen Giftanschlag vermutet, und wir konnten uns nicht mehr halten vor Lachen.

      Sie spricht sehr liebevoll und mit Hochachtung von meiner Ma! Das macht sie mir besonders sympathisch.

       Freitag, 15. August, immer noch in Kępa

      Heute haben wir den 14. Hochzeitstag unserer Gastgeber gefeiert. Ein ungleiches Paar. Der Graf ist schon ziemlich alt, aber ein Ästhet und Feinschmecker, die Gräfin, seine zweite Frau, wohl 30 Jahre jünger, ist unwahrscheinlich lebenslustig und charmant.

      Wir haben sie auf zwei hochlehnige Sessel gesetzt aus feinstem Plüschbezug und ihnen einen Kranz aus Karotten, Rosenkohl, Zwiebeln und Steckrüben, verziert mit bunten Bändern geschenkt.

       Dienstag, 2. September, wieder in Warschau

      Zurück aus einer anderen Welt … Im Dunklen, Minuten vor dem Einschlafen bin ich manchmal noch in Kępa … verrückt, ausgelassen, eine andere Mania als hier, wo lauter ernste Gesichter mich umgeben …

      Vater ist älter geworden, aber wie eh und je an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen interessiert. Bronia bügelt ihm die Hemden, bürstet seine Anzüge. Nur das Schuheputzen übernimmt er selbst. Auch für Hela und mich. So sind wir heute am Sonntag bei wolkenlos blauem Himmel, also mit glänzenden Schuhen an dem sandigen Ufer der Weichsel entlangspaziert. Von der Neustadt der Sonne entgegen zur Altstadt im Süden. An der Marienkirche mit ihrem weithin sichtbaren Turm vorbei, den Königstrakt entlang bis zum Potocki-Palais. Wie viele Baumeister sich an seiner Architektur schon versucht haben. Vater kann sie alle aufzählen: Piola, der den Palast im 17. Jahrhundert mit barockem Garten für die Magnatenfamilie Dönhoff errichtete. Schröger, der ihn im Stil des Rokoko umbaute. Samuele Contessa, Redler und Zeisel, die die Bildhauerarbeiten gestalteten. Vor 100 Jahren war es Boguslaw, der ihn Zug um Zug veränderte, auch das klassizistische Säulenportal schuf. Ende des vergangenen Jahrhunderts arbeitete der Maler Antonio Tombari an dem Gebäude. Und 1860 errichteten die Brüder Marconi den Ausstellungspavillon auf dem Schlosshof, der voriges Jahr, wie Vater erzählte, der Zacheta-Galerie zur Verfügung gestellt wurde. Wir liefen durch die gegenwärtige Ausstellung von Michałowski, Matejko und Gierymski. Interessante Bilder, die den Übergang vom Rokoko zur Moderne zeigen.

      »Aus dir ist eine junge Frau geworden«, hat Vater am Abend zu mir gesagt.

      »Na weißt du nicht, dass ich in zwei Monaten schon siebzehn werde«, habe ich gesagt.

       Freitag, 26. September

      Gemeinsam mit Hela ein Scheltgedicht an die Söhne von Onkel Zdzisław in Skalbmierz geschrieben, weil die Burschen unsere schönen langen Briefe nicht beantworten. Wir haben ihnen eine Impfung gegen »Schreibphobie« vorgeschlagen, ähnlich der Impfung gegen Tollwut.

       Mittwoch, 8. Oktober

      Heute hat mich Vater in sein Arbeitszimmer geholt und mir physikalische Vorträge gehalten. Er erklärte mir die elektrischen Einheiten Volt, Ampere und Ohm, mit denen man die Spannung, den Strom und den Widerstand messen kann. Er redete über wichtige Entdeckungen. Zum Beispiel, dass manche Kristalle elektrische Eigenschaften haben. Vorausgesetzt, sie besitzen, wie zum Beispiel Quarz, kein Symmetriezentrum. »Stell dir vor«, sagte Vater, »die Ladungen sind Kugeln auf einer Ebene und der Ladungsmittelpunkt ist der S c h w e r p u n k t. Wenn Plus und Minus nicht aufeinanderliegen, entsteht ein Dipolmoment. Vor vier Jahren hat das der einundzwanzigjährige Franzose Pierre Curie herausgefunden und als Piezoelektrizität bezeichnet.«

      Vater behauptet, dass bereits in wenigen Jahren in den meisten Ländern der Welt die Menschen nicht mehr bei Kerzenschein oder mit Hilfe von Gaslampen lesen werden, sondern im hellen elektrischen Licht. Er hat von Edison erzählt, einem amerikanischen Wissenschaftler, dem wir das zu verdanken haben. Im vergangenen Jahr entdeckte der den glühelektrischen Effekt. »Stell dir vor«, hat Vater gesagt, »Elektronen gelingt es aufgrund ihrer thermischen Bewegung aus dem Metall bzw. der Oxidschicht herauszutreten. Sie bilden um die Glühkathode im Vakuum eine Raumladungswolke und laden in der Nähe befindliche Elektroden gegenüber der Kathode negativ auf. Dieser Effekt kann zur direkten thermischen Erzeugung von elektrischer Energie genutzt werden.«

      Ich bin froh, dass ich mir das vorstellen und merken kann.

      Vater hat gesagt: »Wir leben im Jahrhundert der unglaublichsten Entdeckungen. Nie wieder werden die Menschen der Natur in relativ kurzer Zeit so viele neue Erkenntnisse abringen.«

       Freitag, 7. November

      Vater hat mir einen großen Geburtstagswunsch erfüllt: Das Buch »Schuld und Sühne«, von Dostojewski. Dieser russische Dichter gehört neben unseren Dichterfürsten Juliusz Słowacki und Adam Mickiewicz gegenwärtig zu meinen Lieblingsautoren.

      60 000 Menschen sollen bei Dostojewskis Beerdigung vor vier Jahren in St. Petersburg dabei gewesen sein!

      Aus »Pan Tadeusz oder Der letzte Einritt in Litauen«, diesem riesigen Versepos in zwölf Büchern von Mickiewicz, lesen wir uns auch oft gegenseitig vor. Ich liebe diese literarischen Samstagabende am Samowar.

       Montag,