"Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht". Christina Seidel

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Название "Und für mich ist es das ganze Leben, das auf dem Spiel steht"
Автор произведения Christina Seidel
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954627943



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Keine Zeit fürs Tagebuch.

      Maria im Alter von 16 Jahren

      Nur die Schule hat mir wirklich Spaß gemacht. Ich bin dankbar, dass ich schnell begreife und will diese Begabung nutzen! Immer noch will ich Wissenschaftlerin werden.

       Sonntag, 10. Juni

      Geschafft! Viele Reden über mich ergehen lassen, Hände geschüttelt, Professor Slosarski umarmt, Fanfarenklänge … Zwei scheußliche russische Bücher als Preis erhalten und mit Vater am Arm das Schulgebäude mit einer Goldmedaille um den Hals verlassen. Für immer. Wie stolz wäre meine Ma gewesen … In der flimmernden Hitze glaubte ich ihr Gesicht zu sehen, ihre Augen …

      Mein Bruder Józef hat mir von Robert Koch geschrieben, einem deutschen Arzt und Biologen. Er hat im vorigen Jahr den Bazillus entdeckt, der die Tuberkulose verursacht. Bald wird die Krankheit heilbar sein. Hätte die Wissenschaft nicht schneller sein können? Nur fünf Jahre …

       Freitag, 15. Juni

      Vater will, dass ich ein Jahr »abschalte« und mich erhole. Nicht lerne, sondern beobachte, staune, mich wundre, die Schönheit der Natur genieße. Ich weiß nicht, ob das für mich Erholung sein wird, ob das gelingt. Ein ganzes Jahr ohne Formeln und Zahlen …

       Sonntag, 17. Juni

      Kazia meint, drei Möglichkeiten bleiben einem Mädchen nach dem Gymnasium-Abschluss. Sie hat mit ihrer Mutter darüber gesprochen.

      1 In Paris oder Sankt Petersburg studieren,

      2 Lehrerin an einer Privatschule werden,

      3 heiraten.

      Für mich kommt nur 1. in Frage. Und zwar in Paris, an der Sorbonne. Aber dafür braucht man Geld. Kommt Zeit, kommt Rat … Ich hab schließlich eine Goldmedaille. Kazia schwankte zwischen 2. und 3. Wenn der Richtige käme, meinte sie und lachte. Sie lachte, als ob er schon da wäre. Aber das hätte sie mir bestimmt erzählt. Für mich kommt heiraten jedenfalls vorerst nicht infrage! Natürlich warte ich auch auf den Richtigen. Aber ob der mich dann auch will?

       Sonntag, 1. Juli

      Das Jahr »Abschalten« hat schon begonnen. Vater hat ein Machtwort gesprochen: »Raus mit dir aufs Land!«

      Erst im Zug, dann im Pferdewagen durch Masowien gereist, auf holprigen Wegen, zwischen Kornfeldern, an verfallenen Windmühlen und ärmlichen Blockhäusern vorbei habe ich mein Ziel in Zwola erreicht.

      Wie ein Palast mutet dort das Landhaus von Onkel Wladislaw, Mutters Bruder, im Vergleich dazu an. Und wie fröhlich das Leben sein kann, ohne Formeln und Zahlen!

       An Freundin Kazia im August

       Ich kann sagen, daß ich außer einer Französischstunde, die ich einem kleinen Jungen gebe, und der Übersetzung aus dem Englischen nichts tue, buchstäblich nichts, denn sogar die Stickarbeit, mit der ich mich anfangs beschäftigte, habe ich heute fast völlig beiseite gelegt. Ich lese nichts Ernstes, nur Liebesromane … Ich komme mir auch unglaublich dumm vor, trotz des Reifezeugnisses und trotz der Würde einer Person, die die Schule beendet hat. Nicht selten habe ich Lust, über mich selbst zu lachen, und mit wahrer Genugtuung erwäge ich meinen Mangel an Verstand.

       Wir gehen oft im Wald spazieren. Dort versammeln sich ein paar Dutzend Personen, wir spielen Serso und Schlagball, wovon ich keine Ahnung habe, Katz und Maus, Mensch ärgere Dich nicht usw. – lauter Kinderspiele …

       Sonntag, 2. September

      Zurück aus Zwola. Aber in Warschau darf ich nicht bleiben. Ich will (muss) nach Zawieprzyce zu Onkel Ksawery.

       Montag, 10. September, in Zawieprzyce bei Lublin

      Zehn Kinder hat Onkel Ksawery und versteht zu wirtschaften. Er besitzt große Ländereien, und viele Arbeiter, die er menschlich behandelt, sagt mein Vater. Sein Landhaus ist riesengroß und steht Gästen immer offen. Auch ein schon etwas verfallenes Schlösschen aus dem 16. Jahrhundert und eine Ahnenkapelle gehören dazu. Die Gäste müssen reiten können und an der Jagd teilnehmen.

      Zawieprzyce – hier verbrachte Maria ihre Ferien

      Heute bin ich das erste Mal allein ausgeritten. Unglaublich schön … Auf Keszhoma, einem 1,60 Meter großen Wallach. Ein Mohrenkopfschimmel. Onkel Ksawery hat ihn mir anvertraut. Zuerst war ich ängstlich. Aber jetzt … Eine Stunde waren wir unterwegs. Keszhoma ist ein ganz ruhiges und friedliches Pferd. Macht, was ich sage, und freut sich über ein Stück Zucker oder wenn ich seine Mähne streichle. Alle Vasen und Gläser im Haus habe ich mit Kamille und Kornblumen gefüllt. Die Wiesen rings um Zawieprzyce sind voll davon.

       Samstag, 15. September

      Ausflug nach Lublin. Die Stadt ist heller als Warschau, freundlicher, die Menschen sitzen in Parks, an der Weichsel, spielen Schach oder plaudern. Der Sommer ist noch einmal mit ganzer Kraft zurückgekommen. Wunderschön im Sonnenlicht das alte Rathaus und die Kathedrale … Hoch über der Stadt trohnt die Burg …

       Montag, 15. Oktober

      Eine Woche war ich mit Vater in Zakopane, einem beschaulichen Dörfchen. Wir wohnten in einem der viel giebligen Holzhäuser der Goralen. Ein Haus mit ungewöhnlich reichem Balkenschnitzwerk. Diese Bergmenschen laufen in seltsam bunten Trachten umher, spielen sehr schön die verschiedensten Musikinstrumente und ihr Schafskäse ist der beste überhaupt.

      Zakopane liegt tausend Meter über dem Meeresspiegel. Kein Ort in Polen liegt höher! Beeindruckend sind die schneebedeckten Gipfel ringsherum. Wir sind bis zum Fischsee gelaufen, der am Fuße des Rysy liegt, und in dessen glasklaren, grün schimmernden Wasser man Schwärme von Fischen beobachten kann. Meinen Rucksack habe ich vollgepackt mit Steinen und Mineralien. Wir haben Falken und Mäusebussarde gesehen, sogar einen Steinadler, Gemsen und das Pfeifen der Murmeltiere gehört. Im Sommer sollen hier die Kuhschelle, Heilglöckchen, Orchideen und Edelweiß wachsen. Ich will unbedingt noch mal im Frühjahr oder Sommer hierher fahren. Ich hatte heimlich ein altes Physikbuch mitgenommen. Für abends, wenn Vater schon schlief …

       1884

       Donnerstag, 10. Januar

      Und wieder einmal habe ich die Koffer gepackt und bin zu Vaters Bruder, Onkel Zdzisław, gefahren. Er wohnt in Skalbmierz, einem kleinen Ort am Fuße der Karpaten. Der Onkel ist ganz anders als mein Vater. Er kann unglaublich lustig sein, aber dann auch plötzlich wieder aufbrausen. Hier werden immer irgendwelche Feste vorbereitet. Seine drei Töchter sollen endlich unter die Haube kommen. Sie sind aber nicht nur hübsch, sondern auch geistreich, und ich finde ihre Gegenwart angenehm und unterhaltsam.

      Wie schnell die Zeit verfliegt …

       Dienstag, 15. Januar

      Tante Maria, die Frau von Onkel Zdzisław, ist vorgestern aus Kielce angereist. Dort besitzt sie eine Klöppelschule und eine Möbelfabrik. Tante Maria ist groß, schön, blond und sehr selbstbewusst. Von Kindererziehung und Kochen hält sie nichts, das überlässt sie einer »Wahltante«. Sie trägt Hosen, raucht Zigaretten und zieht die Gesellschaft von Männern vor. Ich bewundere sie und möchte auch so ein bisschen werden wie sie. Aber nicht unbedingt rauchen und Hosen tragen …

       Sonntag, 17. Februar

       An Bronia

      Ich habe noch einmal am Sonnabend auf dem Kulig (Schlittenfahrt zur Fastnachzeit – Anm. d. Ü.) die Wonne des Karnevals genossen und denke, daß