Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Название Durch die Erde ein Riß
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954626984



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herunter mußten Britanniens Söldner gefegt werden – sollte es wirklich nötig sein, daß Hitlers Wehrmacht den Erzfeind aus seinem Bunker unter dem zerbombten London ans Licht zerrte? Da trat Alfred L. eines Sonntagmorgens ans Bett seines Jungen, er war leichenblaß, als er sagte: »Krieg mit Rußland. Nun haben wir den Krieg verloren.«

      Jetzt erst war wirklich Krieg, jeder begriff es. In diesem Sommer marschierte allein Jungvolk durch Mittweida, SA und SS gab es nur noch auf dem Papier. Die eigentliche Hitlerjugend der Vierzehn- bis Achtzehnjährigen machte einen rapiden Schrumpfungsprozeß durch, da sie an chronischem Führermangel litt, denn schon Siebzehnjährige rückten zum Arbeitsdienst ein. Einigermaßen mobil waren noch Flieger-HJ und Nachrichten-HJ, exklusive Gruppen von technisch Interessierten, in Agonie lag die Stamm-HJ, der große Haufen. Dort zockelten noch zehn Prozent zum Dienst, die meisten ohne Uniform, sie blödelten ein bißchen und gingen wieder zu ihren Mädchen oder ins Kino; immer waren Ausreden zur Hand: Überstunden im Betrieb, keine Schuhe, sie hatten nichts gewußt. Hier waren nicht einmal mehr die Führer begeistert, es gab nichts, woran sich ein Funke hätte entzünden können. Vor allem die Arbeiterjungen, nicht die Oberschüler, ließen sich in die Stamm-HJ abschieben, weil sie dort kaum behelligt wurden. Klasseninstinkt? Der behutsame, nicht nach außen dringende, nicht faßbare Einfluß proletarischer Eltern? Der Chronist muß passen.

      Bescheidenste Erfahrungen machte er immerhin. Von seinen fünfunddreißig Jungen meldeten sich drei oder vier nur jedes dritte oder zehnte Mal zum Dienst. Er mahnte, schickte schriftliche Befehle. Ein Kriegs-Jugenddienstgesetz machte den Dienst zur Pflicht und sah im Weigerungsfall Arrest als Strafe vor. Er hat nie gehört, daß Jugendliche, weil sie den Dienst schwänzten, tatsächlich eingesperrt worden wären. Immerhin war ein Druckmittel gegeben, und er brachte es vor, wenn er in Arbeiterküchen darauf hinwies, daß der Sohn dieser Familie wieder und wieder nicht zum Dienst erschienen war. Am Tisch saß ein Vater, der wenig redete: Er hatte Schicht, konnte sich nicht kümmern, wollte es dem Jungen noch mal sagen. Oder der Vater stand an der Front, eine Mutter argumentierte: Sie arbeite in der Spinnerei, versorge drei Kinder, sie könne nicht auf alles aufpassen. Warum bekäme der Junge nicht wenigstens einen Bezugsschein für eine Hose? Keine Schuhe – barfuß schicke sie den Jungen nicht.

      War das vielleicht schon ein Jahr früher? Da lief seine Klasse im Sportunterricht über tausend Meter, er hielt sich in der Spitzengruppe, zog in der letzten Runde an, kam zu aller Überraschung auf den zweiten Platz, sah die Riesenmöglichkeit, zum erstenmal sportlichen Lorbeer zu ernten, das ließ seine Kräfte wachsen, auf den letzten Metern kämpfte er den Spitzenreiter nieder und siegte, siegte zum erstenmal über die Größeren und Stärkeren, siegte in einer Zeit, die er jahrelang bis auf die Zehntelsekunde auswendig wußte. Da hielt er sich unversehens für ein Langstreckentalent, er rannte, wann und wo sich ihm Gelegenheit bot, besaß genügend Zähigkeit, immer wieder die Dreitausendmeterstrecke in Angriff zu nehmen; sein großes Vorbild war der kleine Japaner Murakoso, der es bei den Olympischen Spielen in Berlin mit den finnischen Riesen aufgenommen hatte. Zehntausendmeterläufer wollte er werden, Marathonläufer vielleicht, er würde der Welt zeigen, wozu Willenskraft fähig war.

      Und er lief. Vom Markt zum Bahnhof und zurück, zur Talsperre hinunter, allein oder seinem Jungzug vornweg. Nie hatte er irgendeine Anleitung. Er probierte alle Strecken zwischen 400 und 3 000 Metern aus, verzichtete bald auf die mörderischen 800. An manchem Abend zog er seine Runden über 3 000 Meter, hatte den toten Punkt bei 1 800, überwand ihn, glaubte, bei 5 000 läge seine größte Chance. Die Olympiade 1940, vorgesehen für Tokio, war ausgefallen, 1944 war der Krieg gewiß gewonnen, aber da würde er noch nicht starten können. 1948 würde er zweiundzwanzig sein und wie einst Murakoso gegen die langen Kerle aus Finnland anrennen.

      Da fanden Bahnmeisterschaften in Rochlitz statt, Sportgierige aus Mittweida fuhren mit ihren Rädern hinunter. In brütender Hitze keuchte er dreitausend Meter hinter Jungen her, die bis zu zwei Jahre älter waren, das Anfangstempo riß ihn aus seinem Rhythmus, der erste ernsthafte Wettkampf, den dieser Selfmade-Läufer bestritt, sollte sein letzter sein. Abgeschlagen schleppte er sich ins Ziel, ausgepumpt und zu Tode enttäuscht. Eine Stunde lang lag er im Schatten, ehe er Erschöpfung und Scham überwunden hatte. Während der Heimfahrt kamen seine Freunde auf die Idee, am langen Berg hinter Rochlitz zu probieren, wer sich am längsten im Sattel hielt. Da packte ihn der Ehrgeiz, er trat, bis ihm schwarz vor Augen wurde, im Straßengraben lag er zum zweitenmal bleich und schweißnaß, und am nächsten Tag kippte er während des Unterrichts aus der Bank.

      Kein Grund zur Aufregung, sagte der Arzt. Das Herz war überstrapaziert worden, das war nicht bedenklich in diesem Alter, das wuchs sich aus. Ein Vierteljahr kein Sport, dann vorsichtig wieder beginnen, auf sich selbst aufpassen, in einem halben Jahr wäre alles wieder im Lot. Während des Sportunterrichts saß L. jetzt am Rand der Turnhalle. Es kam ihm vor, als hätte man ihm beide Beine abgehackt. Kein Marathonlauf jemals, kein Olympiasieg – er schwartete eine zehnbändige Schillerausgabe durch einschließlich der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und des Abfalls der Niederlande. Wahrscheinlich würde er nun Historiker werden, Geschichtsbücher schreiben über den preußischen Friedrich, über die Schlachten auf den Spicherner Höhen und den Todesritt von Mars la Tour. Nie waren seine Heimabende romantischer als in dieser Zeit.

      Da wurde er nach Schneckengrün im Vogtland zu einem Lehrgang der Gebietsführerschule befohlen und fuhr hin mit Teddy Schulze, den er mochte und der jahrzehntelang sein Freund blieb. Teddy war eine kraftvolle sportliche Begabung und obendrein ein begnadeter Schifferklavierspieler. L. trug eine Bescheinigung bei sich, die ihn vom Sport befreite. Schneckengrün wurde der Ort seiner bis dahin bittersten Erniedrigung. Hier kommandierte ein Bannführer, der an der Front ein Auge eingebüßt hatte, an seiner Seite standen Absolventen einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt, die ein Praktikum ableisteten, ehe sie in eine SS-Führerschule einrückten. Jungzugführer L. wies seine Bescheinigung vor und bewirkte Befremden auf allen Gesichtern. Kein Vorwurf eigentlich, eher Ratlosigkeit. Was sollte man hier mit einem Herzkranken? Das Gesunde galt so viel, daß Krankheit ein Makel war, Kranke gehörten nicht in die Reihe der Kämpfer, der Jugend, wie der Führer sie liebte und brauchte. Hier sollte das HJ-Leistungsabzeichen erworben werden, dafür waren sportliche Bedingungen zu erfüllen. Ein Kranker – warum hatte er nicht seinem Bannführer gemeldet, daß er herzkrank war, man hätte ihn gar nicht erst nach Schneckengrün schicken sollen. Schon lange? Angeboren? Da erklärte er, wie es zu seiner Schwäche gekommen war und bezeichnete sie als vorübergehend. Also war es gar nicht so schlimm, da sollte er sich mal nicht haben! Dennoch stand er dabei, wie die anderen weitsprangen, er durfte Sand rechen und das Bandmaß halten. Sein Freund Teddy sprang fünfeinhalb Meter und wurde von keinem überboten. L. war, so würde man heute sagen, weg vom Fenster. Die Herrenmenschen sprangen. Das erstklassige Menschenmaterial sprang. Die nordische Rasse sprang. Nordische Rasse mit Herzfehler – es war ein Widersinn.

      Immerzu wehte Wind. Nie wurde einer satt. Kenntnisse über den Kampf des Generals von Lettow-Vorbeck waren nicht gefragt. Wer konnte Schifferklavier spielen? Teddy hing die Hohner um und spielte, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan. Am nächsten Tag warf Teddy die Handgranate weiter als jeder andere, er war der Star des Lehrgangs. Und dann gab es noch diesen Herzkranken.

      Nie wurde ein Roman über die Hitlerjugend geschrieben. Wer robust, hart im Einstecken und Austeilen war, kam mit den Bedingungen der HJ zurecht und fühlte sich bestätigt. Aber die Sensiblen, die Schwachen. Vielleicht so: Ein Herzkranker versuchte mit seiner Schwäche fertig zu werden, riß sich zusammen, der Herzmuskel riß, er starb im Augenblick des großen Glücks, da er es wenigstens einmal im Hindernislauf oder beim Boxen den Großen, Starken, Bewunderten und Beneideten gleichgetan hatte. Das wäre ein möglicher Nebenstrang in einem Roman oder auch eine selbständige Geschichte. Was wäre eine Fabel, die ins Zentrum traf? Jeder Schriftsteller plagt sich mit seinen eigenen weißen Flecken herum.

      Er war ganz unten angelangt und merkte, wie demütigend es ist, am Boden zu sein, aber keine Sekunde lang kam er auf die Idee, ein System daran zu messen, wie es sich zu seinen schwächsten Gliedern verhielt. Unten war es gräßlich, also mußte er hinauf, und so meldete er am dritten Tag, er wolle am Zwanzigkilometermarsch teilnehmen. Der Gruppenführer nickte befriedigt: Da war einer, der den inneren Schweinehund besiegte.

      Während dieses Marsches wurde er die Angst nicht los, zusammenzubrechen.