Durch die Erde ein Riß. Erich Loest

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Название Durch die Erde ein Riß
Автор произведения Erich Loest
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954626984



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zehn Kilometern fragte einer der ehemaligen Napola-Schüler, der künftige Waffen-SS-Führer: Geht’s? L. nickte. Und der Führer sagte: Na also! L. atmete gleichmäßig, horchte auf sein Herz, das gleichmäßig schlug. Alles schien gut, er war kein Krüppel.

      Diese vier Wochen in Schneckengrün waren für L. auch in der Erinnerung eine solche Last, daß er zwölf Jahre danach, als er die Erzählung »Linsengericht« schrieb, seine erfundene Gestalt des Harry Hahn in Schneckengrün SS-Werbern in die Hände fallen ließ; später montierte er diese Szene in den Roman »Der Abhang« ein. Die Kiesgrube, an deren Hang die Werber ihre Opfer fertigmachten, übernahm er aus seiner späteren Erfahrung aus Zeithain.

      Niemals mehr erwähnte er sein Herz, auch nicht, als sie bei kaltem Regen in einem Freibad in Plauen eine Viertelstunde lang schwammen, wie die Bedingung des HJ-Leistungsabzeichens es befahl; die Temperatur des Wassers lag bei zwölf Grad. Als er heimfuhr, glaubte er, er hätte ein Stück der Hölle hinter sich. Dachte er auch ein Jahr später, als er in Hartmannsdorf half, Zehnjährige auf ihre Eignung für die Nationalpolitische Erziehungsanstalt zu prüfen, an Schneckengrün?

      Was auf dieser Welt, welcher Roman hätte die epische Breite eines Familienalbums? Im Krieg wurde selten fotografiert, Filme waren knapp. Immerhin wurde Fähnleinführer L. vor seiner Formation marschierend festgehalten, hinter ihm die Fahne, vor ihm die Trommler, die begeisterten Jungzugführer und die begeisterten Jungenschaftsführer und in Sechserreihen das unbegeisterte Fußvolk. Der Chronist nimmt die Lupe: Der da ist zwei Jahre später gefallen, keine andere Erinnerung an ihn gibt es als diese: Ein Junge, glatt, hübsch. Der da: Im Westen. Der da: Den traf er vor kurzem und dachte erschrocken: Ein alter Mann. Ein Familienalbum ist Wahrheit, Last, Druck. Man kann keine Hakenkreuzfahnen von Geburtshäusern holen. Klack – wieder ein Stern mehr auf der Schulterklappe. Klack – das HJ-Schießabzeichen an der Brusttasche. Klack – da sind einige aus seiner Klasse, Jahrgang 1925, schon Mitglieder der NSDAP. Von einem borgte er sich manchmal ein NSDAP-Abzeichen aus und steckte es an, wenn er einen Film sehen wollte, der für Jugendliche unter achtzehn nicht zugelassen war. Das fotografierte niemand.

       2

      Drei Häuser weiter wohnte der Kommunist Vogelsang mit Frau und Sohn. Ein letztes Mal Dr. Sauer: »Die KPD hatte sich von neuem organisiert. Aber unserer Geheimpolizei gelang es, Nest auf Nest auszunehmen und an Hand der gefundenen Aufzeichnungen die gefährlichsten Elemente des KPD-Geheimdienstes festzunehmen. Auch der aus Mittweida stammende Spitzenfunktionär Vogelsang, ein Beauftragter des Moskauer Zentralkomitees, wurde Mitte August 1933 in Berlin verhaftet. Er arbeitete mit gefälschten Pässen und Namen.«

      L. sah ihn oft von der Arbeit kommen, eine zerbeulte Tasche unter dem Arm, aus der die Thermosflasche schaute. Das war schon während des Krieges. Hans Vogelsang war aus der Haft entlassen worden und arbeitete in einer Wattefabrik. Sein Sohn war Gefolgschaftsführer der Mittweidaer Marine-HJ, Mutter Vogelsang kaufte bei Loests ein. Wenn dort von Vogelsang die Rede war, hieß es: Ein Kommunist, aber einer von der anständigen Sorte. Vogelsang verrichtete seine Arbeit und hielt den Mund, etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Wäre in Mittweida eine rote Fahne oder eine antifaschistische Parole aufgetaucht: In der nächsten Stunde hätte die Gestapo diesen Mann abgeholt. Hätte er auch nur einen politischen Witz erzählt, es wäre sein letzter gewesen. In den fünfziger Jahren wurde in Romanen und Erzählungen gern diese Szene abgewandelt: Ein verführter Jugendlicher lernt einen älteren Arbeiter kennen, der pfiffelt verstohlen niegehörte Töne, später stellte sich heraus: Es ist die Internationale. Dieser Mann erwirbt das Vertrauen des Jugendlichen, endlich fördert er aus einem Versteck eine zerlesene Schrift: Das kommunistische Manifest. Dem Jugendlichen gehen die Augen auf, gemeinsam schreiten sie in eine hellere Zukunft.

      Er grüßte Herrn Vogelsang, wie ein Junge einen erwachsenen Nachbarn grüßt. Grüßte er mit »Heil Hitler!«? Eigentlich grüßte er immer mit »Heil Hitler!« und erhobener Hand. Wenn er es Herrn Vogelsang gegenüber tat, dann nicht, um zu provozieren. Wahrscheinlich nickte Herr Vogelsang zurück.

      In Texten dieser Art fehlt nie die Erörterung, was und wieviel der Autor von KZ-Greueln gewußt hat, es gilt als moralisches Kriterium erster Ordnung. In diese Kindheit spielte von ferne der Begriff »Konzert-Lager« hinein. Dort wurden, so hörte er, Kommunisten umerzogen. Ein »Konzert-Lager« war in Sachsenburg, zehn Kilometer von Mittweida entfernt; es wurde bald aufgelöst. Wenn er um sein zehntes Jahr aufgefordert worden wäre, ein »Konzert-Lager« zu zeichnen, hätte er versucht, eine Blaskapelle darzustellen, im Karree standen Männer und hörten zu, am Rande wären da noch niedrige Häuser oder Zelte gewesen. Die Kapelle spielte gewiß einen Militärmarsch. Oder die Männer sangen ein erzgebirgisches Volkslied, vielleicht das vom Vuglbeerbaam. Dann gingen sie an die Arbeit, denn in diesen Lagern brachte man ja Kommunisten das Arbeiten bei. Herr Vogelsang war dort gewesen, nun war er wieder hier. Er war umerzogen, nun ging er morgens in die Fabrik und kehrte abends heim. »Heil Hitler, Herr Vogelsang!« Mit Frau Vogelsang hat er gelegentlich gesprochen, sie war eine kräftige Frau mit lauter, manchmal fröhlicher Stimme. In seiner Familie hörte er auch das: Wirklich anständige Leute. Als Herr Vogelsang im Lager gesessen hatte: Die arme Frau!

      Aber vielleicht grüßte er diesen Mann mit »Guten Tag«? Denn in der Familie, im Haus und in der vertrauten Umgebung galten die alten Formeln. »Guten Morgen, Herr Vogelsang!« Hans Vogelsang hütete sich, die Internationale zu pfiffeln. Ein Problem oder gar ein Vorbild war er für L. nicht. Nach dem Krieg wurde er Bürgermeister von Mittweida, Landrat von Döbeln und Vorsitzender der SED-Parteikontrollkommission im Bezirk Leipzig. In dieser Eigenschaft verpaßte er dem Genossen L. im Herbst 1953 eine Rüge.

      Zu wem also schaute er auf, da nicht zum Kommunisten Vogelsang? »Loest, was haben Sie getan bis heute?« So begann jede zweite Lateinstunde, er saß im Blickfeld seines Rektors und konnte es sich nicht leisten, ungenügend vorbereitet zu sein. Ein großgewachsener, dünner Mann, der sich sehr gerade, geradezu steif hielt, schmaler Kopf mit angebürstetem Haar, Bärtchen, Falten zum Kinn hinab, goldgefaßte Brille: Rektor Lehnert. Sein Vorname? Er ist vergessen, damals spielte er keine Rolle. Dieser Mann hatte in der ersten Lateinstunde angeordnet, das Arbeitsmaterial habe griffbereit an der linken Pultseite zu liegen; er brauchte sich nicht zu wiederholen. In seinen Stunden wurde gearbeitet von der ersten bis zur letzten Minute. »Loest, was haben Sie getan bis heute?« Er hatte Vokabeln gelernt und Grammatik gebüffelt und wieder ein Stück aus Cäsars »Gallischem Krieg« präpariert. Die Sitte, in der Stunde vor den Ferien einigen Ulk zu treiben, hatte für Lehnert keine Gültigkeit; er war Preuße bis zum letzten Klingelzeichen. Als der Krieg begann, schaffte er den Begriff »hitzefrei« ab, denn an der Front gäbe es ihn für den deutschen Soldaten auch nicht. Nie hob er die Stimme, das hatte er nicht nötig. Nie lachte er, wahrscheinlich hat er nicht ein einziges Mal gelächelt. In seinen Stunden schielte niemand zum Nachbarn.

      Die Schüler verehrten ihn. An diesem Mann war alles eindeutig, es gab nichts Halbherziges, Verwaschenes. Vorsagen galt in seinen Stunden nicht als läßliches Vergehen, bei dem der Lehrer rügend die Braue hob, Lehnert nannte es Betrug. Einmal, schon im tiefen Krieg, vertrat er den Vertreter des Sportlehrers, zog die Jacke aus und öffnete das Hemd, da sahen seine Schüler eine tiefe Narbe auf einer Brustseite, eine Einbuchtung, in die man hätte eine Faust legen können. Deswegen könne er Übungen am Reck nicht vormachen, sagte Lehnert, eine Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg. Dieses Gespräch von wenigen Sätzen empfanden seine Schüler beinahe als Intimität.

      Sein Spitzname: Der Rex. Er war Nazi; es geht nicht an, ihm nachträglich eine Mitläuferbescheinigung auszustellen. Er war schon vor 1933 Mitglied der NSDAP gewesen, sicherlich begünstigte das seinen Aufstieg zum Direktor. Er war Politischer Leiter. Einen Winter über dozierte er in einem Kursus, in dem Mittweidas Hitlerjugendführer auf ihre geplante Mitgliedschaft in der NSDAP vorbereitet wurden. Den Marxismus erklärte er so: Er wolle alle Menschen gleichmachen, aber es gäbe verschiedene Begabungen und Temperamente, es gäbe Fleißige und Faule, da müßten also die Fleißigen für die Faulen mitarbeiten, und alles würde im Chaos enden. Den Materialismus definierte er so, und das war kein geistiger Eigenbau, das wurde landauf, landab so gelehrt und entstammte zentralen Schulungsbriefen: Der Materialismus schätzte alles nur nach seinem materiellen Wert ein, das herrlichste Gemälde bedeutete den Materialisten nur den Preis für Leinwand, Farbe und Rahmen. Mittweidas Nazinachwuchs schmunzelte: