Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

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Название Reiner Kunze. Dichter sein
Автор произведения Udo Scheer
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954621729



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ideologischen Irrtümern Stalins, von seiner Verantwortung für Massenmorde an Kommunisten bei den Säuberungen in den dreißiger Jahren zu hören. Auch wenn der neue Generalsekretär die ganze Dimension kommunistischer Verbrechen, die Gulags, die Zwangskollektivierung mit Abermillionen Hungertoten, verschweigt, stellen sich Intellektuelle in allen Staaten des sowjetischen Lagers jetzt die Frage: Wenn es in der Sowjetunion Irrtümer und Verstöße gegen Demokratie gegeben hat, gibt es die nicht auch bei uns? Walter Ulbricht ist sich nach seiner Rückkehr aus Moskau durchaus der Brisanz bewusst. Er wiegelt ab, die SED habe keine Entstalinisierung nötig, weil es in ihr keine Stalinisten gebe. Doch die Fragen sind nicht mehr aufzuhalten.

      Ronald Lötzsch besucht bei Erich Loest einige Male einen Kreis, der die Verhältnisse hinterfragt und kulturpolitische Reformen einfordert. Loest stellt aufgebracht die Frage: „Hat nicht Ulbricht höchstpersönlich das Studium der Stalin-Biografie befohlen? Der Mann muss weg!“

      Lötzsch lädt Kunze in diesen Kreis ein. Doch Kunze lehnt ab. Loests Auftreten ist ihm zu vierschrötig. Das rettet ihn vor dem Zuchthaus, als Walter Ulbricht an Wolfgang Harich, Walter Janka, Gustav Just, Erich Loest, Ronald Lötzsch, Karl Schröter, Richard Wolf, Heinz Zöger ein Exempel statuieren lässt.

      Reiner Kunze sagt zu seinen Gesprächen mit Ronald Lötzsch:

       Wir haben gar nicht so viel diskutiert. Er hat mich vor allem informiert. Vor der Staatssicherheit hat er dann Dinge preisgegeben, die ich nie preisgegeben hätte. – Zum Beispiel, dass er bei uns am Radio ausländische Sender gehört hatte. Deshalb wollte man im Verhör von mir wissen, was das für Sender gewesen seien. Ich habe gesagt: „Keine Ahnung, der hat mal gedreht. Das war eine fremde Sprache. Ich habe nichts verstanden.“

      In dieser vierstündigen Vernehmung am 29. März 1958 verhält Reiner Kunze sich überaus geschickt. Mit seinen Antworten versucht er, Lötzsch möglichst zu entlasten und sich nicht zu belasten. Im Vernehmungsprotokoll liest sich seine Aussage so:

       Frage: Welche Einstellung hatte Ronald LÖTZSCH zur Deutschen Demokratischen Republik?

       Antwort: Ich kenne Ronald LÖTZSCH als Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei und weiß, daß er stets eine gute politische Arbeit im Sinne dieser Partei geleistet hat. Mir ist nichts … aufgefallen, was sich gegen die von der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik verfolgte Politik gerichtet hätte. Etwas anderes kann ich hierzu nicht sagen. Frage: Wie schätzte Ronald LÖTZSCH die Ereignisse in der Volksrepublik Polen im Oktober 1956 ein?

       Antwort: Ronald LÖTZSCH hatte für die Ereignisse in Polen im Oktober 1956 sehr großes Interesse. Er las ständig die Presse der Volksrepublik Polen und informierte mich wiederholte Male über den Inhalt verschiedener Artikel. Was er mir im einzelnen mitteilte, ist mir jedoch heute nicht mehr in Erinnerung.

       Frage: Wie verhielt sich Ronald LÖTZSCH zu der in Presse und Funk der DDR gegebenen Einschätzung der polnischen Entwicklung im Herbst 1956?

       Antwort: Was Ronald LÖTZSCH zur Einschätzung der Entwicklung in der Volksrepublik Polen im Herbst 1956 durch Presse und Funk der Deutschen Demokratischen Republik sagte, weiß ich nicht mehr.

       (…)

      Frage: Nach den Aussagen Ronald LÖTZSCHs hat er Sie über seine Verbindungen zu KUPIS [polnischer Journalist und Dozent an der Fakultät für Journalistik, zu dem Kunze den Kontakt vermittelt hat, d. Verf.] – unter anderem, daß er mit KUPIS zusammen den Schriftsteller Erich Loest aufsuchte – unterrichtet. Äußern Sie sich dazu!

       Antwort: Vielleicht hat Ronald LÖTZSCH mit mir über das Vorgehaltene gesprochen, ich weiß jedoch nichts mehr darüber. Andere Aussagen kann ich hierzu nicht machen.

       Frage: Sind bei Ihnen in der Wohnung Sendungen des Londoner Rundfunks, in denen der Renegat Wolfgang Leonhard sprach, abgehört worden?

       Antwort: Wenn mich Ronald LÖTZSCH besuchte, so hat er ständig nach irgendwelchen ausländischen Sendern gesucht. Da in diesen Sendern Fremdsprachen gesprochen wurden, die ich nicht verstand, weiß ich nicht, welche Sender das im einzelnen waren. (…) 18

      Reiner Kunze war als sozialistischer Idealist angetreten. Er selbst sagt dazu:

       Mit Kindern kann man alles machen. Ich war so ein Kind. Ich habe nie geleugnet, dass ich wirklich indoktriniert war. Ich kam aus einem Elternhaus ohne die geringste politische Bildung, wenn man so will, ohne Bildung überhaupt. Ich hatte keine Bibliothek, durch die ich mich hindurchlesen konnte. Ich wurde gefördert als Arbeiterkind, ein Schuljahr vorversetzt, dass muss man sich vorstellen! Ich komme in die Oberschule und komme in ein – nicht Internat, sondern ein Indoktrinat.

       In dem Augenblick, als mein Verstand mir sagte, was man mit uns gemacht hat, habe ich die Konsequenzen gezogen. Und ich habe den Kopf hingehalten.

      Spätestens 1956 beginnt Reiner Kunze darüber nachzudenken: Will ich überhaupt, was ich vor meinen Studenten öffentlich vertrete? Er beginnt Nein zu sagen. Und er stellt Fragen. Dass er einer Lüge gedient hat, kann er nicht rückgängig machen. Aber er darf sich hoch anrechnen, er hat niemanden denunziert, im Gegenteil, er versucht, soweit ihm möglich, andere zu schützen.

      Am 8. Februar 1959 spricht er auf einer FDJ-Versammlung vor 365 Studenten. Auch der Dekan ist anwesend. Diese Rede markiert die erste Zäsur in seinem Leben. Sie führt zum Ende seiner Universitätslaufbahn.

      Er kann nicht anders, als öffentlich seinen Einspruch gegen die allgemeine Schönfärberei an der Fakultät zu erheben. Zu vieles hat sich angestaut. Er sagt:

       Die Fakultät für Journalistik ist keine Fakultät von Schreibenden. Ich fragte sechs Studenten, die hier für viele andere stehen mögen, weshalb sie nicht ohne Auftrag schreiben und fand folgende Gründe:

      1. Zeit fehlt. Das heißt, die Zeit zum Atmen fehlt!

      2. Stoff fehlt. Stoff, das ist die ganze Welt, auch die, die nicht ins Schema passt!

      3. Schöpferische Disziplin fehlt. Man muß aber die Disziplin besitzen, sich hinzusetzen, um zu beschreiben, was vor einem lebt!

      4. Angst herrscht, sich zu offenbaren. Wer schreibt, schreibt aus sich selbst. Daraus resultieren die Hemmungen.

      5. Angst vor ideologischen Fehlern und den daraus resultierenden Rückschlüssen.19

      Diese Kritikpunkte rütteln an den Grundfesten des sozialistischen Journalismus. Allein Kunzes Forderung, seine Themen selbst zu setzen, die eigene Meinung zu artikulieren, steht diametral zum Auftrag jedes sozialistischen Journalisten. Der lautet: „Die allgemeine Absicht wird bestimmt von der Partei der Arbeiterklasse für den sozialistischen Journalismus, das sozialistische Bewusstsein des Volkes entwickeln zu helfen und Einflüsse der bürgerlichen Ideologie zu bekämpfen.“20 Das ist ihre Sprache. Dagegen wird der Anspruch „Wer schreibt, schreibt aus sich selbst“, zu einer Kampfansage. Zumal an diesem Ausbildungshort des Zentralkomitees.

      Ein Artikel in der Westberliner Zeitung Berliner Morgenpost vom nächsten Tag verschärft den Eklat. Der Bericht beginnt mit der Feststellung: „Der Stil der Zonenzeitungen kommt nicht von ungefähr.“21 Im Mittelpunkt stehen Kunzes Kritik und die vehementen Reaktionen aus dem Lehrkörper darauf. Der Beitrag zieht das Fazit: „Kein Wunder also, dass Reiner Kunze, wissenschaftlicher Assistent und politischer Lyriker, beinahe in Ungnade fiel, weil er sagte, was gar nicht in die Gloriole dieser Fakultät passen wollte.“22 Die Staatssicherheit notiert in einem Persönlichkeitsbild: „K. geriet also spätestens mit diesem Artikel in das Blickfeld des Feindes.“23

      1959 kommt Reiner Kunze an einen Tiefpunkt seines Lebens. Die Partei, in die er einmal mit Stolz eingetreten war, begreift er als dogmatisch und zutiefst ungerecht.

      Auch privat befindet er sich in einer Krise. Nach dem Studium hatte er geheiratet. Ingeborg, die ebenfalls an der Fakultät studierte, und er bekommen einen Sohn, Ludwig. Nach außen scheint die Ehe harmonisch. Dennoch werden sie sich trennen.