Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

Читать онлайн.
Название Reiner Kunze. Dichter sein
Автор произведения Udo Scheer
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954621729



Скачать книгу

ideologischen Aufpasser dürfen sich auf die Schultern klopfen. Die Parteileitung verlangt eine schriftliche Stellungnahme und jeder weiß, alles andere als reuige Selbstkritik hat weitere Disziplinierungsgespräche zur Folge. Reiner Kunze schreibt:

      (…) Nach den Informationen unserer Zeitungen während der vergangenen Jahre war es mir unmöglich, die Situation in Ungarn und in der ungarischen Arbeiterpartei so genau zu kennen, dass ich im Augenblick mit fester Überzeugung einen Mann [Georg Lukács, d. Verf.] schuldig sprechen konnte, der bisher in unserem Staat hoch geachtet war und in seinen Werken klug und leidenschaftlich gegen alle reaktionären Theorien und faschistische Ideologien auftrat (…) Ja, ich bin belogen worden, wir alle sind es. Man hat mir zum Beispiel in einem dicken Buch bis in alle Einzelheiten dargelegt, welche Verbrechen die heute rehabilitierten ungarischen Genossen begangen haben.14

      Gemeint ist damit vor allem Janos Kádár, der 1951 als ungarischer Innenminister wegen angeblicher Kollaboration mit Tito verurteilt wird und nach anfänglicher Unterstützung der Revolution nach ihrer Niederschlagung kompromisslos die sowjetischen Machtinteressen durchsetzt.

      Mit dieser Stellungnahme zieht Reiner Kunze Zorn auf sich. Von diesem Zeitpunkt an heißt es in innerparteilichen Einschätzungen zu seiner Person, „daß KUNZE politisch solche Anschauungen vertrat, die letzten Endes revisionistischen Charakter trugen“.15 Seine Feststellung: „Ja, ich bin belogen worden, wir alle sind es“, ist willkommener Anlass für die boshafte Stigmatisierung „Kunze äußerte, daß er von der Partei ‚belogen und betrogen wurde‘, wodurch sein Vertrauen in die Partei ins Wanken geriet“.16

      Politische Auseinandersetzungen führen die Parteidogmatiker mit Reiner Kunze von Anfang an. Begonnen hatte es mit einem Buch, dass ihm eine Tante zum Abitur geschenkt hatte. Im Internat stellt er es auf sein Bücherbrett: Franz Kafka, Ein Landarzt, und ahnt mit keiner Silbe, welche Folgen das hat:

       Mittags große Institutsversammlung. Angeklagt Reiner Kunze wegen Verbreitung bürgerlich dekadenter Literatur. Die Verbreitung sah man darin, dass wir zu viert auf dem Zimmer waren und jeder Zugang hatte. Ich wurde eine Woche lang von einer Leitung zur anderen geschleppt, Parteileitung, Institutsleitung, Universitätsleitung … Überall musste ich Stellung nehmen, warum ich das gemacht hatte. – Bis sie begriffen, dass ich einfach nur ein Idiot war: Der hat wirklich keine Ahnung, wer Kafka ist. Ich bekam die Auflage, sofort zur Parteileitung zu gehen, wenn ich ein Buch in Händen halte, dessen Autor ich nicht kenne.

      Mehrere Vorfälle führen dazu, dass die Zweifel wachsen. Immer wieder werden den Studenten Häuser zugeteilt, in denen sie Stockwerk für Stockwerk Bewohner agitieren müssen:

       Das war eine ähnliche Sache wie in der Oberschule, und ich habe ebenso darunter gelitten. Unter anderem war auch eine Studentin eingeteilt, die im achten Monat schwanger war. In einer Seminargruppenversammlung bat sie, man möge sie von diesen Agitationseinsätzen freistellen, sie könne die Treppen nicht mehr steigen, und es werde ihr furchtbar schlecht. Sie habe dabei schon einmal erbrochen. Eine Dozentin machte diese Studentin fertig: „Wenn die Genossen im KZ alle so …“ Es war furchtbar. Da habe ich eine Glosse in Gedichtform geschrieben, die begann:

      Genossen, Freunde, folgendes:

      die Sache die ist die,

      daß sie gezeugt

      und nicht mehr überzeugen will.

       Das Gedicht habe ich dem Eulenspiegel geschickt, und soweit ich mich entsinnen kann, ist es erschienen. Jedenfalls ist es bekannt geworden. Wie schon bei Kafka war es wieder so weit, dass ich ein Jahr in die Produktion sollte, um mit der Arbeiterklasse Verbindung herzustellen. Dass es nicht soweit kam, verdanke ich einem ukrainischen Professor, er hieß Ruban. Er las an der Fakultät „Sowjetische Literatur“. Für ihn habe ich von Vorlesung zu Vorlesung die Gedichte übersetzt, die er uns vorstellen wollte. Als ich ihm dankte, sagte er abwinkend: „Ich musste Sie verteidigen, denn ich habe Sie gebraucht.“

       Das war ein ganz wunderbarer Mensch. Nach dieser Geschichte verschwand er. Ich nehme an, jemand hat ihn denunziert. Nach ihm kam ein Ultraorthodoxer, der war hochgefährlich.

       Ein Haarriss folgte dem anderen, bis das Gefäß zersprang. Wenn sie indoktriniert sind, versuchen sie immer wieder eine Entschuldigung zu finden, nicht für sich, sondern für die Sache: Das ist schlecht gemacht, oder das sind Menschen, die unfähig sind.

       Ich musste mich erst durch die ganze Ideologie hindurchdenken und hindurchleiden, bis ich so weit war zu sagen: Das ist keine menschliche Ideologie. Das ist ein furchtbares System, das über den Menschen hinweggeht.

       Noch ein Beispiel: Ein sorbischer Student ging zur Parteileitung und sagte, er wolle heiraten, er glaube nicht an Gott, gehe auch nicht in die Kirche, aber seine Frau sei katholisch. Ihre Eltern und Verwandte wünschten, dass sie katholisch heiraten. Die Partei solle bitte Verständnis dafür haben. Er wurde exmatrikuliert.

      Wie jeder an der Fakultät wird auch Reiner Kunze von Genossen beobachtet, die Berichte schreiben, und die Parteileitung verdichtet deren Informationen:

       Ein großer Teil von Studenten, die K. als Assistent zu betreuen hatte, sahen in ihm ein Vorbild. Ein guter Freund von K. ist der Student … parteilos. … wurde als noch nicht politisch reif genug angesehen, um als Journalist eingesetzt zu werden.

       Die Studentin … wurde von K. ebenfalls gefördert. Sie ist parteilos und konnte ebenfalls auf Grund polit. Unreife noch nicht als Journalistin eingesetzt werden. K. hatte Leistungsstipendium für … befürwortet. Der Vater von … wurde vor Jahren republikflüchtig.

       Aus gleichen Gründen der noch unpolit. Reife konnte auch der Student … noch nicht eingesetzt werden. Auch dieser Student gehört zu den sogenannten Kunzianern. (…) Auffallend ist …, daß K. sehr viele persönliche Aussprachen mit seinen Studenten führt, zum Teil auch in seiner Wohnung. 17

      Kunzes Seminargruppe, die ursprünglich aus zwanzig Studenten besteht und nach zwei Jahren auf dreizehn dezimiert ist, wird eine „denkbar schlechte Zusammensetzung“ bescheinigt.

      Eine Handhabe gegen den Störfaktor Kunze erhofft sich die Parteileitung 1958. Sie wird informiert, die Staatssicherheit habe ihn aufgrund seiner Verbindung zu dem „amerikanischen Agenten Ronald Lötzsch“ vernommen.

      Eine außerordentliche Parteiversammlung wird einberufen. Er solle zugeben, dass er Verbindungen zu einer konterrevolutionären Gruppe unterhalte. Nach dem Muster politischer Prozesse soll er ein Geständnis ablegen. Der Druck ist enorm. Nicht weniger als die Wachsamkeit der Parteigenossen steht auf dem Spiel. Sie bluffen, fordern, er solle seine konterrevolutionären Verbindungen eingestehen. Woher soll er auch wissen, dass der Genosse von der Staatssicherheit nur empfohlen hatte, künftig ein Auge auf ihn zu haben.

      Reiner Kunze weiß zu dem Zeitpunkt nichts von einer Gruppe um Wolfgang Harich und Walter Janka, nichts von ihrer Plattform für einen „besseren deutschen Weg zum Sozialismus“. Von dem Kreis um Erich Loest und Wolfgang Zwerenz und ihrer Kritik an der Kulturpolitik der SED hat er nur entfernt gehört. Er weigert sich, zu gestehen, was er nicht gestehen kann: „Etwas einzugestehen, dass ich nicht getan habe, dazu habe ich mich nie in meinem Leben hinreißen lassen.“

      Seine Bekanntschaft mit dem der amerikanischen Agententätigkeit bezichtigten und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilten Ronald Lötzsch reicht zurück in die Stollberger Schulzeit. Dort unterrichtete Lötzsch nach dem eigenen Abitur in Kunzes Klasse Russisch. Nach einem Studium in Leningrad studiert er in Leipzig Slawistik. Gelegentlich besuchen sich die beiden. Lötzsch interessiert sich für die Situation in Polen. Die Wirtschaftskrise dort führt im Juni 1956 von Poznań aus zum Arbeiteraufstand, die stalinistische Führung wird entmachtet, Władysław Gomułka wird der neue Hoffnungsträger, wie Imre Nagy in Ungarn. Ronald Lötzsch liest polnische Zeitungen und sucht Kontakt zu polnischen Journalisten. In Polen findet der Aufbruch statt, den viele in der DDR vermissen. Nikita Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU wird in polnischen Zeitungen abgedruckt und Lötzsch übersetzt