Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

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Название Reiner Kunze. Dichter sein
Автор произведения Udo Scheer
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954621729



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Gemischtehen sind der Führung ein Dorn im Auge. Der Vater entscheidet sich, bei seiner Familie zu bleiben, leidet in der ČSSR aber zeitlebens unter seiner Ausgrenzung als Deutscher.

      Elisabeth darf Medizin studieren und wird als Fachärztin für Kieferorthopädie an die Poliklinik von Aussig delegiert. In ihrem Inneren, sagt sie, fühlte sie sich immer der deutschen Kultur verbunden, sie habe deutsche Bücher gelesen und auf ihrem uralten Radio deutsche Sender gehört.

      In ihren Briefen erzählen Elisabeth Littnerová und Reiner Kunze sich ihre Leben. Besuchen dürfen sie einander nicht. Die Grenze ist für Privatpersonen geschlossen. Mit Elisabeths Hilfe entdeckt Reiner Kunze die tschechische Literatur.

      Einem ihrer ersten Briefe hatte die junge Ärztin Gedichte des von ihr sehr geschätzten Vít Obrtel beigelegt. Reiner Kunze fragt nach weiteren Dichtern. Sie übersetzt ihm interlinear Jan Skácel, Miroslav Holub und Vladimír Holan, Ludvík und Milan Kundera. Diese Übertragungen vermitteln ihm eine völlig neue Perspektive. Auch das sind Gedichte aus einem sozialistischen Land, aber aus ihnen sprechen Sichtweisen, auch in der politischen Selbstverortung, wie er es aus der DDR nicht kennt. Reiner Kunze beginnt nachzudichten:

      Milan Kundera (geb. 1929)

       DICHTER SEIN HEISST

      bis ans ende gehen

      Ans ende der zweifel

      ans ende des hoffens

      ans ende der leidenschaft

      ans ende des verzweifelns

      Dann erst zusammenzählen

      Eher nicht Eher nicht

      Sonst kann’s geschehen

      die summe des lebens

      kommt dir lächerlich klein heraus

      Und du taumelst wie ein kind

      ewig nur im kleinen einmaleins

      Dichter sein heißt

      immer bis ans ende gehen37

      Dieser Kundera spricht Kunze aus der Seele. Durch Elisabeths Übertragungen entdeckt er in der Entlegenheit Böhmens und Mährens sein ureigenstes lyrisches Naturell. Das Nachdichten gewinnt für ihn einen ganz eigenen Reiz. „Es gibt Dichter“, wird er später Karl Dedecius zitieren, „die selbst Hervorragendes geschaffen haben, aber niemals imstande waren, nicht einmal für einen Augenblick, aus der eigenen Haut, aus dem eigenen Stil, aus der eigenen Vorstellung zu schlüpfen. Solchen Dichtern gelingen in der Regel Übersetzungen nicht.“38

      So ein Dichter ist er nicht. Sein Ehrgeiz ist geweckt. Er hat keine Schwierigkeiten, sich vom eigenen Stil zu lösen, ganz in das fremde Gedicht hineinzulauschen, es abzuklopfen auf Harmonien und Brüche, auf Wortspiele, korrespondierende Bilder, auf Doppelbödigkeiten. Wo immer möglich, sucht er den Dichter in seiner eigenen Welt auf, um ihm zuzuhören, um ein Gefühl für ihn zu bekommen. Zugute kommt ihm, er ist ein Arbeiter am genauen Wort bis zu dessen Perfektion, dazu versehen mit einem sicheren Sprachgefühl.

      So entdeckt er auch sehr bald, welche sinnliche Vielfalt in der tschechischen Sprache und in ihrer Poesie liegt. Zugleich erkennt er ihre Grenzen in der Abstraktion. Eine Symbiose aus der Sinnlichkeit der tschechischen Sprache und dem Bedeutungsreichtum der deutschen Sprache erscheint ihm verführerisch genug, um sich in die tschechische Sprache zu vertiefen. Er will nichts Geringeres, als die Vorzüge beider Sprachen in Nachdichtungen und in der eigenen Dichtung zusammenführen.

      Nachdichten heißt für Reiner Kunze, im anderen das Eigene schaffen, und das Andere zugleich bewahren. In einer seiner Münchener Poetik-Vorlesungen 1988/89 formuliert er es so: „Nachdichten heißt, dasselbe zu schaffen, das ein anderes ist, ein Eigenes, das ein Fremdes bleiben muß.“39 Und mit der ihm eigenen Bescheidenheit fügt er hinzu: „Nachdichten und einander den eigenen Vers hinschenken – das ist der Internationalismus der Dichter.“40

      Ein Jahr lang kennen sich Reiner Kunze und Elisabeth Littnerová aus Briefen und von je einem Foto her. An einem Nachmittag meldet Reiner Kunze vom Apparat eines befreundeten Ehepaares aus ein Telefongespräch an. Nachts um halb drei kommt die Verbindung zustande und er fragt Elisabeth, ob sie seine Frau werden wolle. Ihre Antwort: „Ja.“ Da sind sie sich noch nicht ein einziges Mal begegnet. Als Medizinerin, sagt Elisabeth Kunze, habe man das Glück, viele Menschen zu kennen. Einer ihrer Patienten leitet ein „Theater der Poesie“. Es ist eine der Stätten, an denen Lyriker und begabte Laien Gedichte vortragen. Sie fragt ihn, ob es nicht möglich sei, einen ostdeutschen Autor einzuladen. Über diesen Weg kommt Reiner Kunze schließlich für drei Tage nach Aussig, in eine Industriestadt mit ungeheurer Luftbelastung. Die Atmosphäre, den allgemeinen Zustand in dieser vom Verfall gezeichneten Stadt und sein Empfinden fasst er in ein Gedicht:

       SPÄTSOMMER

      Die menschen ducken sich,

      wie die vögel sich ducken in den bäumen

      unter einer sonnenfinsternis:

      (…)

      Und der berg Milešovka, zu dem wir aufbrachen wird sinnlos

      Er senkt sich zwischen das wort ich und das wort

      liebe und das wort dich,

      die ich endlich sage, ohne von der haut zu

      sprechen,

      und die nun keinen satz ergeben

      (…)41

      Für das Jahr 1961 vereinbart Reiner Kunze mit dem Verlag „Volk und Welt“ einen Sammelband tschechoslowakischer Lyrikübersetzungen. Das ermöglicht ihm mehrere Arbeitsaufenthalte und das Zusammensein mit Elisabeth. Sie besuchen Ludvík Kundera und fahren zusammen zu dessen Cousin Milan. Sie kommen in Kontakt mit Vladimír Holan, Miroslav Holub, František Hrubín, Jaroslav Seifert, Jan Skácel. Die Zahl seiner Nachdichtungen in den nächsten Jahren beeindruckt. Allein die Titelliste spricht für sich.42

      Besonders verbunden fühlt er sich dem Dichter und Erzähler Jan Skácel. Beide spüren die Seelenverwandtschaft in ihrer Dichtung, in ihrem Schweigen, in ihren Leben. Skácel formt Verse, die auch von Reiner Kunze sein könnten, – und die es in der Nachdichtung werden: „Mit einemmal entsann ich mich / wo wir zu hause das salz haben.“43 Skácel dichtet und Kunze überträgt:

       KLEINE BAHNHÖFE

      Gegenden gibt’s, da winken die kinder den zügen noch.

      Immer ist in uns ein hauch von traurigkeit

      auf kleinen bahnhöfen,

      wo niemand wartet.

      Plötzlich ist in uns die weiße seele des holunderbaums,

      plötzlich ist in uns zu viel vom menschen.44

      Ihre Begegnung ist ein fruchtbringender Glücksfall. Peter Handke schwärmt in seiner Laudatio für den Petrarca-Preisträger Jan Skácel 1989 von der „märchenhaft glücklichen Übersetzung“ durch Reiner Kunze.

      Wie Kunze wächst der elf Jahre ältere Skácel in ärmlichen Verhältnissen auf - in einem Dorf in Mähren. Wie Kunze besitzt auch Skácel eine ausgeprägte Sensibilität für die Natur. Während des Zweiten Weltkrieges wird er als Zwangsarbeiter zum Tunnelbau nach Österreich deportiert. Nach dem Krieg studiert Skácel in Brünn, er wird Literaturredakteur beim Rundfunk und von 1963 bis zu ihrem Verbot 1968 bestimmt er als Chefredakteur das Profil der renommierten Literaturzeitschrift Host do domu (Der Gast ins Haus).

      Ähnlich wie Reiner Kunze überträgt auch Jan Skácel das Erlebte assoziativ und bildintensiv ins Gedicht. Viele seine Metaphern spielen mit der Naivität und reichen zugleich in das Elementare hinein, in Zeit und Sein, Sprachlosigkeit und Vergängnis.

       KINDHEIT

      Goldne goldne brücke

      Wer hat sie denn zerbrochen

      Gegen