Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

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Название Reiner Kunze. Dichter sein
Автор произведения Udo Scheer
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954621729



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Die Feinde des Sozialismus hätten dafür gesorgt, dass Nazis aus Gefängnissen befreit worden seien. Sie hätten versucht, die Macht an sich zu reißen. Nach diesem „konterrevolutionären Putschversuch“ werden die Studenten auf noch unbedingtere revolutionäre Wachsamkeit eingeschworen. Reiner Kunze ist eingesponnen in diesen Kokon.

      Seine Studienleistungen und die positive Beurteilung als Genosse eröffnen ihm 1955 eine Assistentenstelle mit Lehrauftrag. Zuvor hatte er 1954 ein Praktikum bei der „Magdeburger Volksstimme“ absolviert. Auch diese Beurteilung fällt sehr wohlwollend aus. Er habe „zur vollsten Zufriedenheit“ gearbeitet, sei „wiederholt durch besonders gute Reportagen über künstlerische und andere Ereignisse hervorgetreten“, und er „leitete zeitweilig selbständig die Kreisredaktion Haldesleben“.11

      Reiner Kunze beginnt seine wissenschaftliche Laufbahn an der Uni, er wird aufgenommen in den Journalistenverband und in den Schriftstellerverband der DDR. Aber er vergisst auch nicht, woher er kommt.

       ANTWORT

      Mein Vater, sagt ihr,

      mein Vater im Schacht

      habe Risse im Rücken,

      Narben,

      grindige Spuren niedergegangenen Gesteins

      ich aber, ich

      sänge die Liebe.

      Ich sage:

      Eben, deshalb.12

      Hier spricht die Ehrfurcht vor der Arbeit, zugleich das Glücksempfinden, auserwählt zu sein. Vier Jahre lang führt er Seminare und hält Vorlesungen über „Die literarischen Genres in der Zeitung“.

      In seiner Anfangszeit als Assistent und Mitglied der Parteileitung gibt er die verinnerlichte Indoktrination weiter: „Ich habe daran geglaubt. Ich habe bestimmt anderen geschadet.“ Als Gruppenführer der Kampfgruppe läuft er links außen. Er ist es, der die Befehle gibt. Als Seminarleiter ist er streng. Es geht dabei weniger um politische Auseinandersetzungen, die hat er mit seinen Studenten selten. Ihm geht es um deren Eignung. Kompromisslos vertritt er die Position, Studenten mit schwachen Leistungen gehören nicht ins Journalistik-Studium, auch wenn sie Arbeiter- oder Bauernkinder oder privilegiert sind durch politische Empfehlungen oder Funktionärseltern. Wer bei Prüfungen durchfällt, müsse gehen, damit er einem besseren Studenten nicht den Platz wegnehme.

      Reiner Kunze hat den Ruf eines strengen Idealisten. Es spricht für sich, dass er in seinem Tagebuch Am Sonnenhang diese Einlassungen Wolf Biermanns aus der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 24.08.1990 zitiert:

       Noch heute, nach so vielen Jahren, geht Helga Novak, die große verkannte Dichterin dieses Landes, an die Decke, wenn ich die „sensiblen wege“ meines Freundes Kunze verteidige. (…) „Kunze? Der!!“ Und dann erzählt sie, wie es an der Journalistenhochschule in Leipzig war, wo Kunze zum Lehrkörper gehörte, ein junger ehrgeiziger Assistent. Kunze wurde als brutaler stalinistischer Einpeitscher von den besseren Studenten gefürchtet. 13

      Darauf angesprochen, sagt Reiner Kunze:

       Was Helga Novak betraf, und da war noch jemand, die Brigitte Klump, beide wussten nicht, was im Lehrkörper vorging, dass ich so aufgetreten bin, um überhaupt noch auftreten zu dürfen. Sie haben nicht gewusst, wie mein Verhältnis zu den Studenten war, deren Vertrauen ich besaß.

      Beide, Helga M. Novak und Brigitte Klump kommen 1954 als Studentinnen an die Journalistische Fakultät. 1956 soll Brigitte Klump eine Arbeit über „Die Vulgarisierung der Literatur durch Bertolt Brecht“ schreiben. Brecht lädt sie und andere interessierte Studenten zu einer Aufführung ins Berliner Ensemble ein, damit sie sich selbst ein Bild über „das Destruktive“ seiner Arbeit machen können. Ein Sonderzug für 700 Studenten wird organisiert. Walter Ulbricht persönlich lässt die Anreise verhindern. Vorgeschoben werden Gleisbauarbeiten. Danach ist die anfänglich naive Brigitte Klump, die als Volontärin von ihrer Bauernzeitung zum Studium delegiert wurde, einer derartigen Stasi-Bearbeitung ausgesetzt, dass sie aus der DDR flieht. Einundzwanzig Jahre später veröffentlicht sie die aufsehenerregende Innenschau „Das Rote Kloster“ in der Bundesrepublik. Zuvor hatte das Kulturministerium der DDR dem Verlag Hoffmann und Campe eine Millionen D-Mark geboten, wenn er das Buch zurückzöge.

      Brigitte Klump, sagt Reiner Kunze, hatte einen ähnlichen Eindruck von mir wie Helga Novak. Eines Tages brachte sie mir eine schriftliche Arbeit über die Erziehung zur Heuchelei. Ich habe sie beiseitegenommen und gesagt: „Diese Arbeit müsste ich der Stasi geben. Vernichte sie. Ich habe sie nicht gesehen.“ Das schreibt sie dann auch in ihrem Buch. In dem Augenblick hatte sie begriffen, was der Kunze manchmal öffentlich von sich gibt, ist vielleicht doch nicht der wahre Kunze.

       Ein Beispiel. Wir hatten einen hochbegabten Studenten, der unterstützte mich als Hilfsassistent. Er konnte sehr gut schreiben. Als er mir Arbeiten von sich zeigte, habe ich gesagt: „Junge, das ist gefährlich.“ Dem habe ich geraten, wie er solche Sachen aufheben soll. Sie hatten einen großen Garten: „Nimm doch Einkochgläser. Schreib sehr klein, leg die Manuskripte rein und vergrabe sie.“

      In die erste schwere Auseinandersetzung innerhalb der Fakultät gerät Reiner Kunze 1956. Er kennt zum Aufstand in Ungarn die Argumentation aus dem Neuen Deutschland und aus Parteigruppenversammlungen: Die ganze Schuld läge bei westlichen und ungarischen reaktionären Kräften. Der Hochverräter Imre Nagy und die Petöfi-Renegaten hätten versucht, die volksdemokratische Ordnung zu stürzen und eine Restauration des Kapitalismus herbeizuführen. Damit hätten sie den Weltfrieden gefährdet. Durch die brüderliche Hilfe sowjetischer Truppen und durch die revolutionäre Arbeiter- und Bauernregierung unter Janos Kádár sei Ungarn gerettet worden. Bewusst verschwiegen wird in der SED-Informationspolitik, dass es sich in Ungarn ähnlich wie in der DDR 1953 um eine Volksbefreiungsbewegung handelt, hier hervorgegangen aus Studentenprotesten, dass russische Panzer gegen ungarische Karabiner und den reformkommunistischen Hoffnungsträger Imre Nagy eingesetzt werden und ein Blutbad anrichten.

      Eingeladen von Peter Nell, einem alten Kommunisten und Autor des autobiografischen Romans „Der Junge aus dem Hinterhaus“, fährt Reiner Kunze zum außerordentlichen Schriftstellertreffen nach Berlin. Er ist dabei, als die Präsidentin Anna Seghers Georg Lukács verteidigt, einen der intellektuellen Köpfe des Petöfi-Klubs und damit des Ungarn-Aufstandes. Und er fragt sich: Wie passt das zusammen? Seghers und Lukács verbindet ein langer Briefwechsel. Während der Niederschlagung des Aufstandes in Budapest bittet sie Walter Janka, den Leiter des Aufbau-Verlages, Lukács nach Berlin zu holen. Janka wird verhaftet und wegen konterrevolutionärer Gruppenbildung und Verschwörung – er habe Lukács in die DDR schmuggeln und so den Sturz der Regierung herbeiführen wollen – zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Prozess, bei dem Anna Seghers anwesend ist, schweigt sie.

      Reiner Kunze:

       Ich war befreundet mit Peter Nell, er arbeitete im Ministerium für Kultur, in der Hauptabteilung Literatur, wo die Manuskripte eingereicht und begutachtet wurden. Seine Frau Edith und er waren sehr vernünftige Leute, parteipolitisch fest gebunden, aber es gab keine Tabus in den Gesprächen. Im Gegenteil.

       Als Peter Nell 1957 sterbenskrank lag, besuchte ich ihn. Er hat meine Hand ergriffen und gesagt: „Reiner, es stimmt alles nicht. Wir haben für einen Irrtum gelebt.“

       Dieser Peter Nell lud mich offiziell ein zu einer während der Ereignisse in Ungarn sofort einberufenen Schriftstellerversammlung in Ostberlin. Dort waren Anna Seghers, Stephan Hermlin, alle, die in der DDR-Literatur eine Rolle spielten. Ich gehörte da überhaupt nicht hin. Anna Seghers war da einmal mutig. Sie hat sich für Georg Lukács eingesetzt: „Ich glaube nicht, dass er ein Feind der Arbeiterklasse ist, denn er hat mich zur Kommunistin gemacht.“ Sie hat sich hundertprozentig hinter ihn gestellt.

       Früh morgens bin ich nach Leipzig zurückgefahren, weil ich Seminar hatte. Da stehen oben auf der Holztreppe des Hintereingangs Fritz Raddatz und Klaus Höpcke, zwei Assistenten und Kollegen von mir. Ich sehe sie noch heute und höre sie fragen, was denn in Berlin gewesen sei und ich sage