Reiner Kunze. Dichter sein. Udo Scheer

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Название Reiner Kunze. Dichter sein
Автор произведения Udo Scheer
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783954621729



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acker

      Auch, daß niemand mit uns töten kann

      Wir wollten sein wie die dinge aus ton

      Inmitten

      soviel

      rollenden

      stahls

      2

      Wir werden sein wie die scherben

      der dinge aus ton: nie mehr

      ein ganzes, vielleicht

      ein aufleuchten

      im wind8

      Dieses Gedicht erzählt davon, wie der Glaube und das Vertrauen einer ganzen Generation missbraucht und zerbrochen wurden. Nur eine ganz, ganz kleine Hoffnung bleibt.

      Man muss sich hineinversetzen in die Zeit. Es sind die Hunger- und Aufbaujahre nach dem Krieg. Die Jugendlichen erfahren von den Gräueltaten der Nazis, sehen Bilder aus Konzentrationslagern. Die neue Gesellschaft steht dafür, dass das nie wieder passieren darf. Die Hoffnungsworte heißen Zukunft, Fortschritt, Sozialismus. Alles soll besser werden. Das will auch er.

      Der Bericht über eine Schulkonferenz im Jahr 1958 zeugt von der Atmosphäre an der Stollberger Oberschule. Obwohl sieben Jahre dazwischen liegen, braucht es wenig Fantasie, sich diese Konferenz 1951 vorzustellen, als Kunze dort Schüler war.

      In die Aula eingeladen sind „218 Eltern unserer Arbeiter- und Bauernkinder und die Genossen der Sozialistischen Einheitspartei.“ Die Inhalte der Referate und die Diskussionsredner werden im Vorfeld festgelegt. Nichts wird dem Zufall überlassen. Ein Drittel der Eltern folgt der Einladung der Schulleitung, dazu Funktionäre des regionalen Parteiapparates und des „Pädagogischen Rates“.

      Die erste Kritik wird am mangelnden Interesse in den Elternhäusern laut. Es zeige, hier müsse weit mehr Überzeugungsarbeit geleistet werden. In dieser Konferenz geht es nicht um eine Analyse von Bildung und Wissen. Aufgabe ist es, „den Stand der sozialistischen Erziehung an unserer Schule zu überprüfen und Maßnahmen zu ihrer Verbesserung einzuleiten“.

      Als Bilanz bisheriger Erziehungserfolge wird verkündet: „… 47 Meldungen zum Dienst in der Nationalen Volksarmee, Arbeitseinsätze im Nationalen Aufbauwerk, bei der Ernte …, beim Bau eines Schießstandes …“ Anschließend werden die Anwesenden konfrontiert mit „Misserfolgen und offensichtlichen Mängeln in der gemeinsamen Erziehungsarbeit“: Acht Schüler, die im letzten halben Jahr „unseren Arbeiter- und Bauernstaat verraten haben und republikflüchtig wurden“, werden mit Namen und Wohnort genannt.

      Der stellvertretende Direktor fordert: Eltern republikflüchtiger Schüler haben die Ausbildungskosten zurückzuerstatten; Schüler, von denen Angehörige Republikflucht begangen haben, sind von der Schule auszuschließen; nur noch „solche Grundschulabgänger werden in die Oberschule aufgenommen, die … durch ihre Teilnahme an der Jugendweihe sich zu unserem Staat der Arbeiter und Bauern bekennen.“

      Mehrere Diskussionsredner ergehen sich in scharfen Attacken gegen zwei Pfarrer, die das Recht auf Religionsfreiheit und Konfirmation verteidigt haben. Das seien „Machenschaften, die religiöse Gefühle für reaktionäre Zwecke mißbrauchen“. Alle Anwesenden stimmen einem vorbereiteten Schreiben an die Kirchenleitung zu, das ihre „Empörung“ angesichts der „starren und reaktionären Haltung“ der beiden Pfarrer ausdrückt. Der Brief kulminiert in dem Satz: „Ihre Stellung gegen die Jugendweihe ist nichts anderes als ein bewusstes Hemmen unseres sozialistischen Aufbaus.“9

      Dieses Klima herrscht an dieser Schule, über deren Eingangsportal die Worte „Gott sei Gloria“ aus dem Sandstein herausgemeißelt sind. Kirchenkampf, Ausgrenzung junger Christen, Sippenhaft bei Republikflucht und Militarisierung sind Teile der „sozialistischen Erziehung“. Die tägliche Indoktrination zeigt Wirkung.

      In Kurzbiografien über Reiner Kunze liest man das Wort „SED“. Auch dahinter steht eine Geschichte.

      Die Lehrer schätzen die Freundlichkeit des Schülers, seinen Lerneifer und die Zuverlässigkeit bei der Erfüllung „gesellschaftlicher Aufträge“. Eines Tages klopfte der Direktor während des Unterrichts an die Tür. Er rief mich heraus und sagte: „Wir haben beschlossen, dich als Kandidat für die SED vorzuschlagen.“ Das war in der zehnten Klasse. Eine Ehre! Der Rektor war ein alter Sozialdemokrat, ein vernünftiger Mensch.

      Am 1. Juni 1950 wird Reiner Kunze als Kandidat in die Reihen der SED aufgenommen. Das, sagt man ihm, sei eine hohe Auszeichnung und eine ebenso große Verpflichtung. Da ist er sechzehn. Aus seinem Lebenslauf für die Bewerbung zum Studium sprechen Stolz, Überzeugung und jugendlicher Überschwang des künftigen jungen Genossen:

      Das Datum jedoch, das ich dem ersten gleichsetze [dem der Geburt, d. Verf.], ist das meiner Aufnahme als Kandidat für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Was wäre ich für das Friedenslager, für die Arbeiterklasse, ja für mich selbst, wenn mich nicht die Partei schule und erziehe? Im Strom der Zeit triebe ich vielleicht mit dahin, aber selber lenken und andere Lenken lehren könnte ich … nicht.10

      Doch bald stellen sich erste Irritationen ein. Bei den Volkskammer- und Regionalwahlen im Oktober 1950 werden die Schüler als „Wahlschlepper“ eingesetzt. Ihr Auftrag ist es, schon am Vormittag die Bewohner in ihren Häusern aufzusuchen, zu fragen, ob sie wählen waren. Wenn nicht, sollen sie sie zum Wahlbüro begleiten. Das ist dem Schüler Kunze überaus peinlich. Noch peinlicher wird es, als er und ein Klassenkamerad sich davon überzeugen müssen, dass der Ärger eines dieser Wähler berechtigt ist: Es liegt kein Stift in der Wahlkabine. Sie gehen in ein anderes Wahllokal. Auch dort kein Stift. Sie sind empört, laufen in die Schule und berichten dem Rektor, Herrn Bellmann, was sie erlebt haben:

       Er bekam einen hochroten Kopf, die Adern schwollen ihm an: „Unmöglich!“ Wütend rief er in unserer Gegenwart die Kreisleitung an und protestierte. Die Folge war, dass er mangels Parteilichkeit gerügt und später in eine andere Schule versetzt wurde.

      Eigentlich will Reiner Kunze an der Kunstakademie Dresden studieren. Er besteht die Vorauswahl. An der Oberschule gibt es jedoch zwei Lehrerinnen, die ihm ideologisch zusetzen und ihn dazu bringen, sich für ein Studium der Publizistik zu entscheiden. Sie handeln damit strikt im Interesse der Partei. Der Abiturient hat keine Vorstellung, was dieses Studium bedeutet.

      Nach dem Abitur 1951 beginnt er an der Philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig unter anderem das Fach Publizistik zu studieren. Seinen Neigungen folgend belegt er Kunst-, Musik- und Literaturgeschichte, weshalb er nach Gründung der Fakultät für Journalistik 1954 dem Fachbereich Kulturpolitik zugeordnet wird.

      Mit ihrer Umgründung untersteht diese Fakultät nur noch pro forma der Universität, de facto wird sie ein Ausbildungsinstitut des Zentralkomitees der SED. Der Auftrag: Nach leninistischen Prinzipien sollen die angehenden Journalisten hier zur „schärfsten Waffe der Partei“ geformt werden. Wer im „Roten Kloster“ sein Diplom erwirbt, gehört fast schon zur Nomenklatur.

      Aus heutiger Distanz, sagt Reiner Kunze, habe er das Studium in Erinnerung als Jahre hochgradiger Indoktrination. Er habe den Professoren geglaubt. Sie seien für ihn unbezweifelbare Autoritäten gewesen. Er ist ein guter Student, erhält Leistungsstipendium und Auszeichnungen.

      Von den Spannungen in der Gesellschaft lebt er weitgehend abgeschottet. Die Ereignisse um den Volksaufstand des 17. Juni 1953 erreichen ihn kaum. In diesen Tagen liegt er frisch am Blinddarm operiert am Rande der Stadt im Krankenhaus Leipzig Dölitz. Er weiß nicht, dass allein in Leipzig vierzigtausend Arbeiter die Betriebe besetzen und mit anderen auf die Straße gehen. Erst durch eine Tante, die ihn besucht, erfährt er überhaupt etwas von den Protesten gegen Preissteigerungen und Normerhöhungen, von besetzten und verwüsteten Parteihäusern und Angriffen auf Funktionäre und Polizei, vom Einsatz russischer Panzer, vom Ausnahmezustand und Verhaftungen. Die Tante ist bei ihrem Besuch vollkommen aufgelöst und hat Angst zu erzählen.

      Das wenige, dass er über den 17. Juni erfährt, gibt ihm zu denken. An der Universität hören die Studenten danach gebetsmühlenartig von „Unruhen“ als „Werk imperialistischer