Emsgrab. Wolfgang Santjer

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Название Emsgrab
Автор произведения Wolfgang Santjer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839264287



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hatte Renko gesagt. »Ich weiß, du bist noch kein Fachbereichsleiter. Aber es wurde ausdrücklich um deine Anwesenheit gebeten.«

      »Wann und wo?« Broning verdrehte die Augen und sah zur Decke.

      »In einer Stunde im Besprechungsraum vierte Etage.«

      Broning stöhnte. »Renko, du weißt, ich habe hier alle Hände voll zu tun …«

      »Ich weiß, du magst solche Veranstaltungen nicht, aber es muss sein.«

      »Na gut.« Broning seufzte. »Ich ruf dann meine Frau an und sage ihr, dass ich später nach Hause komme.«

      Zu diesem Zeitpunkt hatte Broning noch geglaubt, dass Brigitte zu Hause mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt war. Er hatte sich, so oft es ging, den Luxus gegönnt, mittags zu Hause zu essen.

      Aber tatsächlich war Brigitte Broning auf dem Weg zur Arbeit gewesen. Sie war gebeten worden, kurzfristig für eine erkrankte Kollegin einzuspringen. Ihr Handy steckte wahrscheinlich wie immer in ihrer Handtasche, die auf dem Beifahrersitz ihres Kleinwagens lag.

      Auf der Autobahn war nicht viel Verkehr gewesen und Brigitte in Gedanken wahrscheinlich bei ihrer Mutter. Seit die einige Tage zuvor ins Pflegeheim umgezogen war, plagte Brigitte ihr schlechtes Gewissen – trotz aller vernünftigen Argumente, die für den Umzug gesprochen hatten.

      Sie sollte ihre Mutter zunächst nicht besuchen, um die Eingewöhnung zu erleichtern. Den Pflegern hatte sie für alle Fälle aber ihre Handynummer gegeben, und ihrer Mutter auch.

      Als das Handy zum ersten Mal klingelte, hatte Brigitte den Anruf wahrscheinlich nicht entgegengenommen, weil sie schließlich auf der Autobahn war und im Moment keinen Parkplatz in der Nähe hatte. Tatsächlich hatte die Mutter ihr auch nur mitteilen wollen, dass sie eine alte Freundin im Heim getroffen hatte und ihre Tochter sich keine Sorgen machen sollte.

      Kurz darauf hatte Brigittes Handy ein zweites Mal geklingelt. Sie hatte nicht ahnen können, dass ihr Jan nur sagen wollte, dass er später nach Hause käme. Brigitte hatte diese zwei Anrufe direkt hintereinander wahrscheinlich als Notfall im Zusammenhang mit ihrer Mutter gedeutet. Sie hatte dann wohl den Verschluss ihrer Handtasche geöffnet, vielleicht zunächst nur, um auf dem Display zu sehen, wer anrief. Als sie das Handy in der Tasche endlich ertastet und herausgezogen hatte, war es ihr vermutlich in den Fußraum des Pkw gefallen.

      Die Aussagen der Unfallzeugen würde Jan nie vergessen.

      Ein Autofahrer, der sich direkt hinter Brigitte befunden hatte, hatte berichtet: Der Kopf der Frau im Wagen vor mir verschwand aus meinem Sichtfeld nach rechts. Ich hatte den Eindruck, dass sie etwas im Bereich des Beifahrersitzes suchen würde. Das Fahrzeug geriet dabei zweimal auf den rechten Seitenstreifen. Plötzlich fuhr sie mit der rechten Fahrzeugseite in den Grünstreifen und knallte gegen die Außenschutzplanken. Ich führte eine Notbremsung durch und sah, wie der Kleinwagen quer über beide Fahrstreifen schleuderte und gegen die Mittelschutzplanken knallte. Ich bin sofort ausgestiegen und habe mit einem anderen Mann, der aus dem Wagen hinter mir ausgestiegen ist, nach der Frau gesehen. Wir konnten sie leicht verletzt – ich glaube, sie hatte eine Platzwunde an der Stirn – aus ihrem Auto befreien. Anschließend sind wir von der Fahrbahn auf den Seitenstreifen gegangen.

      Ein weiterer Zeuge: Wir wollten die Unfallstelle absichern und die Polizei anrufen. Einen Moment haben wir nicht an die Frau gedacht. Plötzlich sehe ich, wie die Frau wie unter Trance zurück auf die Fahrbahn läuft.

      Der Beschuldigte hatte in seiner Vernehmung gesagt: Ich hatte meinen Kleinlaster schon sehr früh beladen und wollte nach Oldenburg über die Autobahn. Als ich durch die lange Kurve fahre, sehe ich plötzlich, dass mehrere Autos auf der Fahrbahn stehen. Bitte, glauben Sie mir, die Unfallstelle war erst spät zu erkennen und nicht abgesichert. Ich stehe quasi auf der Bremse und versuche, den Zusammenstoß zu vermeiden. Alles läuft immer wieder wie in Zeitlupe ab. Mein LKW knallt auf das hinterste Fahrzeug und schiebt die davor stehenden Autos zusammen. Wie in einem Albtraum sehe ich, dass sich eine Frau zwischen den zusammenkrachenden Autos befindet. Für einen kurzen Moment sehen wir uns an und ich werde diesen Blick nie vergessen.

      Aus dem Unfallbericht: Der Beteiligte 02 befuhr mit seinem voll beladenen LKW die Autobahn. Er bemerkte die Unfallstelle, welche noch nicht abgesichert war, hinter der Kurve zu spät. Trotz Notbremsung fuhr er auf den Beteiligten 07 (männlich, 45 Jahre, schwer verletzt) auf und schob die davor abgestellten Fahrzeug zusammen. Die Beteiligte 01 (weiblich, 38 Jahre, verstorben) befand sich zwischen den zusammengeschobenen Fahrzeugen der Beteiligten 03 und 04. Der Unterleib der Beteiligten 01 wurde zerquetscht und die Frau verstarb noch an der Unfallstelle.

      Das tatsächliche Grauen an der Unfallstelle konnte man zwischen den Zeilen des amtsdeutschen Berichtes nur erahnen.

      Was Jan jedes Mal verzweifeln ließ, war die Tatsache, dass sich Brigitte schon in Sicherheit befunden hatte. Warum war sie wieder auf die Fahrbahn gelaufen? Hatte sie direkt nach dem Unfall unter Schock gestanden? Hatte sie ihr Handy oder ein Warndreieck holen wollen? Er würde es nie erfahren.

      Bei der Unfallaufnahme hatten die Kollegen von der Autobahnpolizei das Handy gefunden, und bei der Auswertung war dann festgestellt worden, dass kurz vor dem Unfall die zwei Anrufe eingegangen waren.

      *

      Gegenwart

      Broning fühlte sich mitverantwortlich für Brigittes Tod. Er redete sich ein, dass sein Anruf den Unfall zumindest mitverursacht hatte.

      Der plötzliche Tod seiner Frau hatte ihn aus der Bahn geworfen. Er haderte mit sich und seiner Umwelt. Broning hatte die Feuerbestattung organisiert und sich um alles Notwendige gekümmert. Unbemerkt hatte er sich immer mehr zurückgezogen von seinen Freunden, die nicht wussten, wie sie reagieren sollten, und von den Kollegen. Seine Schwiegermutter hatte er seit der Seebestattung noch nicht wieder gesehen.

      Das gemeinsam gebaute Einfamilienhaus hatte er weit unter Wert an eine Familie aus Westfalen verkauft. Er hatte Brigittes Sachen in Umzugskartons verpackt und war in eine Leeraner Altstadtwohnung im vierten Stock umgezogen. Die Sachen, von denen er sich nicht trennen konnte, hatte er im Gästezimmer verstaut.

      »Jan, der Bestatter ist da und will wissen, ob er den Toten zur Rechtsmedizin nach Oldenburg bringen soll.« Stefan Gastmann wartete vergeblich auf eine Antwort. Diese Situation kannte er bereits. Broning war wieder in seiner eigenen Welt. Also erteilte Gastmann dem Bestatter selbst die notwendigen Anweisungen. Die Leiche wurde im Zinksarg in den Kombi des Bestatters geschoben und abtransportiert.

      Stefan Gastmann ging zum Liegeplatz des Bootes von Familie Hauck, um sich noch einmal gründlich umzusehen.

      An einer Holzstufe fand er geringe Gewebespuren und Haare. Er machte zunächst Fotos, darunter auch Nahaufnahmen mit einem speziellen Maßband, um die Größenverhältnisse darzustellen. Routiniert arbeitete er sich mit den Aufnahmen von außen nach innen. Er maß die Spuren für die Skizze aus, dann sicherte er Gewebe und Haare in kleinen Plastiktüten und beschriftete sie. Schließlich klappte er den Spurensicherungskoffer wieder zusammen und verstaute die Digitalkamera.

      Als Gastmann zu den anderen Bootjefahrern ging, die in der Nähe festgemacht hatten, sah er, dass Broning immer noch auf den Hafen starrte. Die Bootsbesatzungen, die er bisher befragt hatte, machten schon ihre Sprüche darüber. »Was ist denn mit Ihrem Kollegen los – will oder kann der Ihnen nicht helfen? Sie machen ja alles alleine!«

      Die Arbeit der Polizei wurde doch immer sehr genau beobachtet.

      Ein Herr Kowaltzky aus Dortmund lag mit seinem Motorboot ebenfalls an der Promenade. Er konnte sich noch erinnern, Herrn Hauck in der Kneipe beim Heimatmuseum getroffen zu haben. Die beiden Sportbootfahrer hatten sich dort in der maritimen Atmosphäre sofort wohlgefühlt. Als später noch einige Mitglieder des örtlichen Shantychores eingetroffen waren, war dort richtig was los gewesen. Kowaltzky war ein altes Akkordeon in die Hände gedrückt worden, und bei Rolling Home und Hamburger Veermaster hatte eine allgemeine Verbrüderung stattgefunden.

      »Jeder gab eine Runde Kruiden und Bier aus, Herr Kommissar«, erzählte Kowaltzky. »Wir waren so zehn Leute und dann ging es noch mal rum. Da kommt schon was zusammen.