Herbstverwesung. Stefanie Randak

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Название Herbstverwesung
Автор произведения Stefanie Randak
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783962298531



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war es an der Zeit, heute mit dem Schreiben ihres ersten Buches zu beginnen. Und das wollte sie in dem kleinen süßen Cafe Fresh tun, wo sie gestern Misses Greenwood, ihre Inspiration, getroffen hatte. Sie hatte gesagt, sie würde jeden Tag zur selben Uhrzeit dort hingehen.

      Also spannte Eleonora ihren transparenten Regenschirm auf und wagte sich hinaus in die eisige Kälte Londons. Auf dem Teer stand das Wasser, und die Wolken gossen weitere Wassermassen herab, als würde man unter einem Wasserfall stehen. Bisher hatte sich London noch in keiner Weise von einer schönen Seite gezeigt, dachte Eleonora genervt.

      Die Wohnung gefiel ihr nicht, Lorenzo war nie zu Hause und draußen aufhalten konnte man sich auch nicht bei diesem Unwetter. Endlich erreichte sie das Cafe. Mit dem Öffnen der Eingangstüre wurde sie wie am Vortag von dem süßen und warmen Duft der Leckereien umhüllt. Voller Erwartungen sah sie sich um. Doch Misses Greenwood konnte sie nicht entdecken.

      „Entschuldigung?“, sie sprach den jungen Kellner Lucas hinter der Bar an.

      „Was kann ich für Sie tun, Miss?“, lächelte er freundlich.

      „Ich suche eine alte Dame, vermutlich mit Kopftuch.“

      „Sie meinen Misses Greenwood?“

      Eleonora nickte. Hier, am Rande von London fühlte man sich wie in einem kleinen Dorf, wo offensichtlich jeder jeden kannte. Vom kultigen Großstadtleben und quirligen Menschen, Trends und buntem Treiben war hier zu Eleonoras Entsetzen keine Spur.

      „Sie war heute noch nicht hier. Normalerweise kommt sie immer zur selben Uhrzeit“, er zuckte mit den Schultern.

      „Sie wird vermutlich nicht kommen“, ein dicker Mann auf einem der glitzernden Barhocker stellte sein Bier am Tresen ab und drehte sich im Sitzen zu den beiden um.

      „Auf Red Side hat letzte Nacht der Blitz eingeschlagen“, raunte er und hielt seine Zeitung hoch. Red Side?

      „Misses Greenwood lebt auf dem kleinen Schloss namens Red Side im Gloomy Forest“, erklärte er, als er die Verwirrung in Eleonoras Gesicht erkannte. Im Gloomy Forest? Dann konnte sie nicht allzu weit weg von ihr und Lorenzo wohnen!

      „Du meine Güte. Ist ihr etwas geschehen?“, fragten Eleonora und Lucas zeitgleich.

      „Hier ist ein Artikel. Dort steht, dass ein Fenster kaputt gegangen ist. Der Wind hat wohl einiges zerstört in ihrem Wohnsalon.“ Er hob seine Zeitung hoch und trank einen großen Schluck von seinem Bier.

      „Doch es fehlt anscheinend ein hochwertiges Schmuckstück. Ein Saphir Ring. Wenn ihr mich fragt…“, er machte noch einmal eine Trinkpause. „…Wurde dort auf Red Side letzte Nacht eingebrochen“, er schob seine Zeitung mit dem Artikel zu Eleonora rüber.

      Meine Güte. Ein Einbruch.

      „Niemand, der noch ganz bei Sinnen ist, bricht auf Red Side ein!“, protestierte der Kellner.

      „Wieso nicht? Ein Schloss ist doch ein offensichtliches Ziel. Misses Greenwood ist reich, das weiß doch jeder hier“, raunte der Mann.

      „Ja, und es weiß auch jeder hier, dass es auf Red Side spukt!“, schauderte Lucas. Der Mann trank sein Bier aus und erhob sich. „Du hast wohl zu viel an den Kaffeebohnen geschnüffelt!“, lachte er dreckig und verließ das Cafe. Eleonora und der Kellner blieben verdutzt zurück und schauten ihm nach.

      „Was haben Sie damit gemeint, als Sie sagten, dass es auf Red Side spukt?“, flüsterte Eleonora.

      „Wenn Sie mich fragen, gibt es so einiges, dass auf Red Side und mit Misses Greenwood nicht so ganz stimmt. Die Frau hat sie nicht mehr alle. Sie hat immer ihre Enkelin dabei. Doch die ist kein lebendiges Kind, sondern …“

      „Eine Puppe“, beendete Eleonora den Satz.

      „Ja. Eine Puppe“, flüsterte Lucas. „Außerdem hatte Misses Greenwood sieben Söhne. Und sechs davon sind auf einmal spurlos verschwunden. Es gibt angeblich nur noch einen, der lebt. Der Älteste“

      Eleonora sah ihn mit großen Augen an. Die Worte des Kellners erschreckten sie.

      „Und wo lebt dieser Sohn?“, sie griff langsam nach der Zeitung und drehte den Artikel so, dass sie das große Bild auf dem Titelblatt von Red Side richtig herum ansehen konnte.

      „Das weiß niemand. Er wurde lange nicht mehr gesehen, von niemandem. Es gibt Gerüchte, dass seine sechs Brüder im Keller von Red Side in einem Kerker gefangen gehalten werden. Andere sagen, sie seien verunglückt.“

      Lucas Geschichte machte Eleonora Angst. Angst, aber auch neugierig. Sie hatte sich dafür entschieden, über Misses Greenwood und ihre Puppe ein Buch zu schreiben. Und so wie es aussah, sollte es ein richtig spannender Roman werden. Eleonora wollte zu Misses Greenwood auf ihr Schloss. Sie wollte diese Frau kennen lernen und herausfinden, was es mit den Geschichten von Red Side auf sich hatte. Eleonora war keine Frau, die man leicht von etwas fernhalten konnte. Sie wollte immer alles wissen und selbst herausfinden.

      „Kann ich die mitnehmen?“, sie deutete auf die Zeitung, die vor ihr lag.

      Lucas nickte. „Was haben Sie vor, Miss?“

      „Ich werde Misses Greenwood einen Besuch abstatten“, zwinkerte sie und stopfte die Zeitung in ihre Tasche.

      „Tun Sie, was Sie meinen, tun zu müssen. Aber ich rate Ihnen eins: Halten Sie sich von diesem Schloss fern, und von allem, was es beinhaltet.“ Lucas Stimme klang verschwörerisch. Doch Eleonora zuckte mit den Schultern und meinte selbstsicher: „Machen Sie mir einen Kaffee to go, bitte. Und einen für Misses Greenwood.“

      Um zum Red Side Schloss zu gelangen, muss man zunächst ein Stück durch den Gloomy Forest laufen. Zu Eleonoras Erschrecken musste sie feststellen, dass das Red Side das am nächsten gelegene Nachbarshaus zu ihrer und Lorenzos Wohnung war.

      Der Gloomy Forest war keineswegs für Spaziergänge geeignet, kein familienfreundliches Stück Natur in dem man Picknick machen konnte. Es gab nur einen schwer erkennbaren Weg, mehr einen Trampelpfad, dem Eleonora instinktiv folgte, um zum Schloss zu gelangen. Hier raschelte etwas im Dickicht, da bewegte sich etwas im Gebüsch. Es war erst früher Nachmittag, doch hier war es schon dunkel und grau. Da erblickte Eleonora das Schloss, in dem Misses Greenwood lebte.

      Das Schloss, einst prächtig und machtausstrahlend, jetzt derbe und fad, zerstört und dunkel, lag etwas erhöht auf einem Berg. Unten parkte ein Polizeiauto, das Blaulicht war eingeschaltet und flackerte störend in den Wald hinein. Eleonora schlich langsam und vorsichtig die rutschigen Treppenstufen hinauf. Ein morsches Holzgeländer, welches Besuchern und Bewohnern sicher einmal Halt beim Aufstieg gegeben hatte, wackelte nun armselig den Weg hinauf, wenn man sich daran festhalten wollte. Oben angekommen führte ein Kiesweg zum großen hölzernen Eingangstor. Eine Hausklingel fand Eleonora nirgends. So mutig und neugierig sie auch war, ein Ort des Wohlfühlens war das hier nicht.

      Mit zittrigen Händen schob sie das schwere, nasse Tor auf und stand im Innenhof des Schlosses. Staunend sah sie sich um. So ein riesiges Anwesen, und hier sollte nur Misses Greenwood leben? Eleonora musste an die Worte des Kellners denken. Sieben Söhne sollten hier eigentlich noch wohnen. Sie nahm ihr Handy heraus und schaltete die Kamera ein. Knipste ein Foto von dem Brunnen, dessen Leere unheimlich ins Erdreich ragte und von dem Turm, der seine rote Spitze in den Himmel bohrte. Eleonora öffnete eine der vier Türen, in der Hoffnung, irgendwo auf Misses Greenwood zu stoßen. Hier war nur ein verlassener Stall, in dem früher bestimmt mal Schweine oder Ziegen gehalten wurden.

      Hinter der zweiten Türe befand sich ein leerer Waschraum, ein kaputtes Waschbecken rostete dort vor sich hin und eine alte Schubkarre stand eingestaubt daneben. Eleonora trat an das Waschbecken heran. Aus dem Wasserhahn tropfte es nervig, dicke Tropfen verschwanden mit einem lauten Echo im Abfluss. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel mit einem großen Sprung in der Mitte. Eleonora betrachtete sich in den kleinen Einzelteilen. Ihre Wangen waren rötlich von der eisigen Kälte, von ihren Wimpern tropfte die Tusche und zeichnete ihr dünne schwarze Spuren unter die Augen. Die schwarze Haarpracht klebte durchnässt an ihrem Kopf. London war so trist, so trüb und fad.