Название | Morgenroths Haus |
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Автор произведения | Thomas Perlick |
Жанр | Контркультура |
Серия | |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962851590 |
Nun sang Fritz Teumer, der Ostfriese, die Hymne der Bayern, und dem träumerisch veranlagten Alois rollten die Tränen über die Wangen.
„Da sieht man das ganze Gebirg’ vor sich stehen“, stöhnte er und winkte den Sänger nach hinten. Der griff fröhlich zu und hielt das Zigarrenkistchen Pepe in der Hand, das den Beginn unserer Geschichte bildete, weil es im Morgenrothschen Hause steht bis auf den heutigen Tag.
Alois, den wir noch weinend vor uns sehen, hat das Gebirg’ nicht mehr erblickt. Fritz dagegen, der glücklicherweise überlebte, kam nun mit dem Kistchen nach oben und versteckte es unter einem losen Brett in seiner Kajüte.
„Dafür bekommst du deine zwei Stunden“, sagte er zu dem Schiffsjungen Martin, der sich nun in einem Zwiespalt zwischen Vorfreude und Furcht befand, denn er hatte noch keinerlei Erfahrungen im Rätselreich sinnlicher Liebe. Also ließ er sich von dem kundigen Fritz allerlei Erklärungen geben, wobei der Leichtmatrose merkwürdigerweise ein wenig kurzatmig wurde.
In jene etwas schwüle Unterrichtsstunde krachte die erste Kugel aus der Kanone eines portugiesischen Piratenschiffes. Sie riss den Leichmatrosen Bernhard Polt vom Mast und trennte seinen Kopf vom Rumpf, wobei nur letzterer auf die Planken stürzte. Als man an die eigenen Geschütze eilte, war es im Grunde schon zu spät. Der zweite Treffer führte innerhalb weniger Minuten zu einer ordentlichen Schlagseite. Backbord ließ der feige Kapitän gemeinsam mit dem betrunkenen Steuermann ein Boot zu Wasser. Während die Besatzung in Panik durcheinander rannte, sagte der schlaue Fritz zu seinem jungen Freund Martin: „Es ist Zeit, zu gehen.“
Er holte seinen Schiffssack und verstaute das Kistchen Pepe fachgerecht darin. Dann ließen sich Fritz und Martin an Seilen herab ins Boot. Der Kapitän war zu dick, sie abzuwehren, der Steuermann zu besoffen. Fritz und Martin kämpften sich ans Ruder. Bald jagten sie durch Pulverdampf und aufkommenden Abendnebel aus Sichtweite der Piraten und nahmen Kurs auf ein Eiland, von dem sie nur hoffen konnten, dass es nicht das Zuhause der Seeräuber war. Der betrunkene Steuermann war inzwischen rittlings über Bord gegangen und sofort gesunken.
Pepe, das Zigarrenkistchen, spürte die Gefahr der Stunde, denn bei Nässe stirbt jede gute Zigarre einen grausamen Tod. Mehrere hundert Kameraden, deren Umladen in das Piratenschiff nicht mehr gelungen war, erlitten gerade dieses entsetzliche Schicksal. Aber Pepe wurde durch die erotischen Sehnsüchte eines hübschen, aber noch unerweckten Schiffsjungen gerettet.
Als sich das Gemisch aus Nebel und Pulverdampf lichtete, sehen sie die Insel, ein tellerflaches Ding ohne Vegetation.
„Grundgütiger!“, rief Fritz, „Nicht mal Wasser wird man dort finden.“
Nun war der Kapitän zwar feige und ohne jedes Pflichtgefühl, hatte aber eine ganze Seekarte im Kopf, was sich jetzt als höchst nützlich erwies. Mit etwas Glück navigierte er die kleine Besatzung tatsächlich in einen sicheren Hafen. Hier erzählte er einem Kollegen die furchtbar erlogene Geschichte seines heldenhaften Kampfes gegen das elende Seeräuberpack. Fritz Teumer spuckte dreimal aus, beschloss aber ansonsten, sich nicht weiter darum zu kümmern und heuerte zwölf Tage später gemeinsam mit dem Schiffsjungen Martin bei einem englischen Frachter an, der seine Ladung im Hamburger Hafen löschte.
Dort kamen die beiden Freunde am 11. Mai 1921 glücklich an. Im Gepäck hatten sie die Heuer eines Leichtmatrosen und Pepe, das Zigarrenkistchen. Der Schiffsjunge Martin sah den Hamburger Hafen zum ersten Mal. Er zählte die Zwölfmaster und die gewaltigen Dampfschiffe. Er sah den Männern bei ihrer schweren Arbeit zu und entdeckte die ersten leichten Damen, hochbeinig und mit bemalten Augenwimpern.
„Davon lass die Finger und was du sonst noch so hast!“, knurrte Fritz.
Dann warf er sich den Seesack über die Schulter und lief davon. Martin, der Schiffsjunge, hätte sich gern noch ein bisschen umgesehen. Die Bierkutscher standen in langer Reihe und warteten.
Riesige Werbeschilder prangten von den Wänden: „Schneeweiß – der Gardinenkönig: Sicher, sauber, schnell“, hieß es da. Oder, in dicken Buchstaben: „Der Motor machts – Rothstein und Söhne: Mit uns kommen Sie um die Welt!“
Fritz saß etwas abseits und wartete. Er behielt seinen jungen Freund immer im Auge. Und da, tatsächlich, eine der knapp bekleideten Damen ging direkt auf Martin zu: „Na, Kleiner, gerade angekommen?“
„Ja, eben in diesem Moment“, erwiderte Martin, der sie gar nicht wahrnahm, weil er den Hafen in den Augen hatte.
„Bist du zum ersten Mal in Hamburg?“
„Ja“, sagte er, „hier ist die ganze Welt beisammen, nicht wahr?“
„Sicher“, sagte sie, „und alles Schöne auch. Du bist noch so jung. Für dich mache ich einen Sonderpreis.“
Jetzt erst blickte Martin sie an, eine korpulente Dame, die seine Mutter hätte sein können.
„Tut mir leid“, stotterte er verlegen, „mein Freund sagte ...“ Aber da war Fritz auch schon zwischen ihnen.
„Komm, Junge, wir sind besseres gewohnt“, sagte er.
„Elender Sauhund“, fluchte die Frau und schickte noch eine erstaunlich reichhaltige Kanonade an Schimpf- und Schandeworten hinter ihnen her: „Schiffsratten, elende! Pestbeulengesichter! Eunuchenpack, versifftes! Schweinebande! Scheißkerle ...!“ Martin hörte die Tiraden noch, als sie schon um die Ecke gebogen waren.
„Jetzt geht es ihr wieder besser“, sagte Fritz trocken.
Es wurde dunkel, und die Geschäfte zeigten ihre beleuchteten Auslagen: Der Juwelierladen mit seinen funkelnden Kostbarkeiten, das Haus des Hutmachers Paroli, in dem gerade umdekoriert wurde. Das Pralinengeschäft Mayer, aus dem es so süß duftete, und schließlich das amerikanische Kaufhaus, in dem es vom Hausschuh bis zum Pelzmantel nicht weniger als alles gab.
Jetzt wurde es lauter. Straßenbahnen kreischten und die Marktschreier am unteren Ende konnte man auch schon hören:
„Bananen bester Qualität, frisch aus Übersee! Einen Groschen billiger als gestern. Brezeln, frische Salzbrezeln!“
„Wiedergeburt“, schrie eine heisere Männerstimme, „das Haarwuchsmittel mit Erfolgsgarantie!“
„Hier gibt es reinweg alles“, sagte Fritz zu seinem staunenden Freund, der nur so dahintaumelte vor Schaulust. Die Straßenlaternen flammten auf, große, milchgesichtige Ballons, die über den Menschen hingen. Ein Kriegsversehrter hockte am Brunnen und verkaufte Schwefelhölzer mit seiner verbliebenen Hand.
„Es ist der Unterschied“, murmelte Fritz, „er macht einen so meschugge, Kleiner. Der Unterschied.“
Martin wusste nicht, was sein Freund meinte, aber er ahnte es natürlich.
„Gerade Seeleute verstehen es oft nicht“, begann Fritz wieder, „sie fahren Monate auf den einsamen Meeren herum. Dann kommen sie nach Hamburg. Die erste Hure nimmt ihnen schon die Hälfte der Heuer für einen elend schnellen und lieblosen Dienst. Dann kommen sie hierher, werden aufgesogen und ausgepresst, versinken in all dem Überfluss und kommen leer wieder nach oben wie eine Flasche, die sich unter Wasser verschüttet hat. Schon nach der ersten Nacht haben sie keinen Groschen mehr in der Tasche. Dann nehmen sie irgendeine Schinderarbeit am Hafen an oder fahren gleich mit dem nächsten Kahn wieder ab. Es ist der Unterschied, Kleiner! Er raubt dir die Vernunft. Merk’ dir das!“
Sie bogen in eine Seitenstraße ein. Die Schaufenster wurden kleiner: Ein Schuster, ein Schneider und die Leuchtschrift des Messerschmiedes Dörfer in dritter Generation.
„Da drüben ist es!“, sagte Fritz feierlich.
Martin war ein bisschen enttäuscht. Von außen machte das Haus nicht viel her: Kleine Fenster, vor denen blaue Gardinen hingen, eine schwach beleuchtete Tür und ringsum keine Menschenseele.
„Wir sind noch etwas früh dran!“, sagte Fritz. „Erst ab zehn geht es so richtig los. Aber wir können schon unsere Karten holen.“
Sie