Leben ohne Maske. Knut Wagner

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Название Leben ohne Maske
Автор произведения Knut Wagner
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957163080



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Oskar Anschütz verstand zwar, dass August Stillmark sich etwas durchs Musikmachen dazu verdiente, aber völlig unverständlich war ihm, dass sein Schwiegersohn Woche für Woche zum Trompetenunterricht nach Erfurt fuhr.

      August Stillmark jedoch nahm die beschwerlichen Bahnfahrten nach Erfurt zwei Jahre lang an jedem Wochenende in Kauf, weil er hauptberuflich Musik machen wollte. Er war 29 Jahre alt und sein Lebenstraum war es, erster Solotrompeter in einem Theaterorchester zu werden.

      Oskar Anschütz hatte nichts für die Pläne seines Schwiegersohnes übrig. Er brauchte einen Mann, der fest zupacken konnte und immer verfügbar war, wenn auf der Schneidmühle außer der Reihe Arbeiten zu verrichten waren. Selbst im Stall gab es immer etwas zu tun, und für das ständige Trompetespielen seines Schwiegersohnes, der sich Abend für Abend für den Wochenendkurs am Konservatorium präparierte, hatte er kein Verständnis.

      „Nicht zum Aushalten war das“, sagte August Stillmark. Und so sei ihm die Entscheidung, ins elterliche Haus nach Arnsbach zu ziehen, nicht schwergefallen. 1949 sei das gewesen, „Butzkes, eine Umsiedlerfamilie aus Schlesien, gingen zu Verwandten nach Hessen, und die Mansardenwohnung wurde frei. Meine Mutter war zwei Jahre zuvor gestorben, und mein Vater war ganz allein im Haus.“

      Gleich nach dem Umzug habe er beim Alten in der Schneidmühle gekündigt und die Stelle als erster Trompeter im Schau- und Tanzorchester Birkenhall angenommen, erzählte August Stillmark. Denn von Kindesbeinen an sei es sein Wunsch gewesen, hauptberuflich Musik zu machen. „Als ich zehn Jahre alt war, nahm ich Privatunterricht im Fach Violine beim Großvater meiner Stiefschwester“, sagte August Stillmark. „Während meiner Lehrzeit ließ ich mich im Fach Trompete unterrichten, und als Lehrausbilder habe ich sogar einen Schülerchor geleitet.“

      „Ich habe nie ein Instrument gelernt, und ich habe nie im Schulchor mitgesungen“, sagte Wolfgang. Und er gestand, dass er total unmusikalisch sei. August Stillmark wollte das nicht glauben. „Jeder ist musikalisch“, sagte er und begann sofort, Wolfgangs Rhythmusgefühl zu prüfen.

      Auf dem Sofa sitzend, nahm er die Position eines Schlagzeugers ein. Mit seinen ausgestreckten Zeigefingern trommelte er Takte auf die Tischplatte. Wolfgang gelang es kein einziges Mal, den vorgegebenen Rhythmus nachzuklopfen.

      Das aber hielt August Stillmark nicht davon ab, Wolfgang einem weiteren Test zu unterziehen. Er stellte sich vors Klavier und schlug einzelne Töne an, die Wolfgang nachsingen sollte. Aber Wolfgang traf keinen der angeschlagenen Töne richtig. Er merkte nicht einmal, wenn er einen halben oder ganzen Ton daneben lag.

      Für August Stillmark, der ein absolutes musikalisches Gehör besaß, war das nicht zu begreifen. Aber er ließ nicht locker.

      Als er gerade dabei war, Wolfgang zu zeigen, wie er die Trompete ansetzen und halten müsse, um einen vernünftigen Ton aus ihr herauszukriegen, schob Heidi ihren Kopf durch die spaltbreit geöffnete Wohnstubentür und bewahrte Wolfgang vor einer weiteren Blamage.

      „Das Mittagessen für morgen ist fertig“, sagte sie. „Es gibt Hühnerfrikassee. Wenn du Lust hast, kannst du schon mal davon probieren.“

      August Stillmark hatte immer Lust, wenn es ums Essen ging, und so stand er Augenblicke später vorm Gasherd in der Küche und löffelte aus einem großen Topf das heiße Frikassee. Am genüsslichen Schlürfen hörte man, dass es ihm schmeckte.

      Bevor August Stillmark am nächsten Morgen das Haus verließ, über die Wiese hinterm Haus ging und der PGH im Feld zustrebte, legte er ein Briefkuvert mit 50 Mark auf den Küchentisch und blies, im Korridor stehend, „Happy birthday to you“.

      Wolfgang, den der frühmorgendliche Auftritt aus dem Schlaf gerissen hatte, hörte, wie Heidi von der Balustrade der oberen Etage herab sagte: „Schönen Dank für das Ständchen.“ August Stillmark rief von unten zurück: „Viel Spaß auf der Schneidmühle.“

       8. Kapitel

      Die Toreinfahrt zur Schneidmühle in Silberberg war doppelt so breit wie die vorbeiführende Hauptstraße, und über der gesamten Toreinfahrt prangte ein gewaltiges Firmenschild aus Holz, das wie ein Riesen-Transparent wirkte. In großen, schwarzen Lettern war zu lesen. „Emil Anschütz, Sägewerk & Zimmerei“.

      Wie ein großes L lagen die Gebäude der Schneidmühle vor ihnen. Die Firma Anschütz, die einst 21 Leute beschäftigt hatte, war in den Jahrzehnten ihres Bestehens zu einem Kleinbetrieb geschrumpft und nannte sich jetzt „Metallwaren Emil Anschütz.“

      Exzenter lärmten in der kleinen Werkstatt unter der ehemaligen Kutscherwohnung, in der Pfennigabsätze gefertigt und Kofferscharniere gestanzt wurden.

      Von der fünfköpfigen Belegschaft arbeiteten drei in der Produktion: Onkel Fritz, Onkel Rolf und Tante Herta. Lisa, Heidis Patentante, war im Kontor beschäftigt und half in der Werkstatt nur mit, wenn Not am Mann war. Oskar, Heidis Großvater, schaute nur ab und an in die Werkstatt. Ansonsten kümmerte er sich nicht um den Metallbetrieb, in dem zwei seiner Töchter und die beiden Schwiegersöhne arbeiteten.

      Als Heidi und Wolfgang an der kleinen Werkstatt vorbeigingen, die sich gleich links an einer der Giebelseiten befand, blieb Heidi stehen und sagte: „Falls jemand aus der Verwandtschaft einen Ferienjob oder kurzfristig Arbeit brauchte, war immer ein Exzenter frei.“

      Sie standen vor einem niedrigen Fenster. Sie habe oft in den Ferien hier gearbeitet, Heidi zeigte in die kleine, dunkle Werkstatt und versuchte, sich durch lautes Klopfen ans Fenster bemerkbar zu machen. Aber der Lärm in der Werkstatt war so groß, dass niemand davon etwas mitbekam.

      Beim flüchtigen Blick durchs Fenster nahm Wolfgang schemenhaft zwei Männer und eine Frau wahr. Der mit der Latzhose, der an der Bohrmaschine stehe, sei Onkel Fritz, und Onkel Rolf sei der mit dem blauen Kittel, der gerade Draht zerschneide, und Tante Herta sitze mit dem Rücken zu ihnen an einem Exzenter, erklärte Heidi. „Aber die lernst du ja alle noch heute Nachmittag kennen. Spätestens heute Abend.“

      Tante Lisa, die auf Heidi und Wolfgang gewartet hatte, nahm sie an der Haustür in Empfang. Sie war eine füllige, vollbusige Frau, die eine gewisse Warmherzigkeit ausstrahlte. Ihr Blick jedoch wirkte etwas kalt, was ihren grün-grauen Augen geschuldet war. Sie trug eine weiße, kurzärmlige Sommerbluse, die ziemlich tief ausgeschnitten war, und ihr cremefarbener Rock, der handbreit über ihren dicken Knien endete, spannte etwas über ihrem Unterbauch.

      Lisa war 37 Jahre alt, und ihr vierjähriger Sohn, eines von drei Kindern, hing ihr im wahrsten Sinne des Wortes am Rockzipfel. Scheu und verschämt gab er Heidi und Wolfgang die Hand. Dann hüpfte er ausgelassen durch den dunklen Flur vor ihnen her.

      Als Wolfgang und Heidi die große Bauernküche betraten, unterbrach Minna Anschütz ihr Hantieren am Herd.

      Heidis Großmutter war klein und zierlich. Ihre grauen Haare, die glatt nach hinten gekämmt waren, wurden durch einen Knoten zusammengehalten. Weil es ihr streng konservativ eingestellter Mann so wollte, trug sie auch an diesem heißen Augusttag eine Alltagstracht, zu der ein langer, schwarzer Rock gehörte.

      Minna freute sich über Heidis Besuch, drückte sie fest an sich und gratulierte ihr zum Geburtstag. Dann erkundigte sie sich sofort danach, wie es der Großen gehe. Heidis Mutter Lisbeth, die Älteste ihrer Töchter, war für sie die Große, obwohl sie die Kleinste war, und die jüngste Tochter war für sie die Kleine, obwohl sie die Größte war.

      Wolfgang setzte sich unbeachtet auf einen Stuhl in der Ecke.

      Heidi sagte, dass ihre Mutter vielleicht schon am nächsten Montag aus dem Krankenhaus entlassen würde.

      Minna war erleichtert darüber und setzte die Kartoffeln auf. „Und was macht dein Vater so?“

      „Fast jedes Wochenende tritt er auf irgendeinem Sommerfest auf“, sagte Heidi. „Heute Morgen hat er für mich ‚Happy birthday‘ gespielt.“

      Während des Mittagessens lernte Wolfgang auch Heidis Großvater kennen, der ihm am Nachmittag sein einstiges Imperium zeigte.

      „Vor hundert Jahren wurde der Betrieb gegründet, und vor zehn Jahren musste ich die