Traumprotokolle. Christof Wackernagel

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Название Traumprotokolle
Автор произведения Christof Wackernagel
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783866747784



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spricht mich sofort an, beschimpft mich, provoziert, indem er Sachen umschmeißt, ich gehe, gehe einfach nicht darauf ein, er ist zornesrot, wird immer wilder, steht auf und kommt ganz nah an mich ran, fuchtelt rum, ich sage ruhig, dass ich nicht bereit bin, mich zu prügeln, er will mich schlagen, tut es aber nicht richtig, ich wehre leicht mit den Armen ab – da hat er plötzlich ein riesiges Hackmesser in der Hand, mit dem er mich bedroht – es lag auf meinem Tisch – ich stehe auf und versuche auszuweichen, er verfolgt mich, schwingt es drohend, will immer wieder zuschlagen, aber ich weiche aus, er verfehlt mich immer wieder, bis er es endlich voller Wucht auf mich wirft, wieder weiche ich aus, aber er trifft mich trotzdem etwas, streift am Hals, ich spüre nichts, aber weiß, dass ich getroffen bin, und schlage wütend auf ihn ein, mit den Fäusten, aber ohne ihn ernsthaft zu verletzen, eher trommelnd, er selbst rennt auch ständig gegen mich an, bis wir getrennt werden: er ist tot; ich erfahre es kurz darauf, nachdem ich wieder mit ihr zusammen bin, ich lese den Totenschein: er war Bluter, er wusste, dass er sterben würde, wenn er mich auch nur angreift, ich bin unschuldig, denn im Totenschein steht ausdrücklich, dass er an sich selbst beigefügten Verletzungen gestorben ist; ratlose Trauer breitet sich aus, sie und ich lieben uns noch mehr, aber alles ist hoffnungslos, Fips liegt in ein weißes Laken gehüllt auf einem Feldbett und pennt, und ich stehe mit Walter Jens an einem Stehpult und prüfe Formulare, Goldenbergs Haftbedingungen sind drastisch verschärft, alle Besuche gekappt etc., plötzlich blendet uns grelles Licht, Fotografen, hinter ihnen, meine Rechtsanwältin in einem silbergrauen Rolls Royce, die uns etwas zuruft, es wird auf jeden Fall einen Prozess mit großem öffentlichen Interesse geben; sie ist weg – ich suche sie, ich bin verzweifelt, die Trauer wird immer größer, ich löse Eintrittskarten für ein Open-Air-Kino, in vergammelten Gassen lungern Afrikaner, Latinos und Halbwüchsige rum, alles ist total verdreckt, Müll liegt herum, Katzen und Ratten schleichen herum, es sieht ähnlich wie bei U-Bahnhofein-gängen aus, kaum beleuchtet, aber alles sehr bunt und auf jeder Wand verschieden große – zum Teil riesengroße – Videoschirme, auf denen in grellbunten Farben und so grob, dass man die Zeilen überall sieht, ein Film läuft, dessen Plakate zum Teil zerfetzt an den Wänden hängen: »The last Story of the Mouse and the Lion«, und dann sehe ich sie auch, die Maus, die auf einem Mauervorsprung sitzt und in rührenden Worten, dass einem die Tränen kommen, von ihrer Liebe erzählt, vor allem von den vielen kleinen Dingen, die sie zusammen machen könnten, wenn sie nur zusammenkommen könnten; der Löwe sitzt auf den Hinterbeinen vor ihr und lauscht mit zur Seite geneigtem Haupt und schüttelt es ab und zu mit trauriger Zustimmung; es ist so schön und traurig, dass sich einem alles zusammenzieht; dann läuft es aus in eine kitschige Weltkugel, aus der ein Liebespaar tritt, Hand in Hand, und eine überdramatisierte Stimme von »The Lovestory of the whole World« redet – und endlich trete ich aus den Gängen auf einen Platz, auf dem weiße Jugendstilstühle stehen, es ist das Open Air Kino, das eigentliche, sieht aus wie bei einem Kurkonzert, an sich hatte ich den letzten Platz, aber die meisten sind schon weg, vor mir weg, die Gruppe der Geliebten, die ich suche, ist zu Vierzehnjährigen und zu Zwergen degeneriert, die in Kinderkleidung des 19. Jahrhunderts artig auf den Stühlchen sitzen und verschreckt blicken, sie tuscheln, als ich komme, sie warnen mich, es habe alles keinen Sinn, ich solle es nicht nochmal versuchen, sie sei weg, endgültig, ich werde sie nie wieder sehen, und ein paar Stuhlreihen weiter sitzt Volker Speitel, der Verräter; lange sitze ich noch in tiefer Trauer alleine zwischen all den leeren Stühlen –

      – wir fahren mit mehreren Wagen zusammen zu einem Auftritt oder ähnlichem – ich will mit dem großen Mercedes mit, aber als ich einsteigen will, ist er schon voll, ich meckere und drohe an, überhaupt nicht mitzufahren, wenn nicht in diesem Wagen, aber da haben mir die anderen schon hinten zwischen lauter Fellen einen schönen Liegeplatz bereitet, ähnlich wie in den alten VWs hinten, und wir brausen los, erst rückwärts aus der Karl-Theodor-Straße in die Leopoldstraße, dann mit einem eleganten Schwung wieder geradeaus, und ich wundere mich, dass der Wagen so bruchlos vom Rückwärts- ins Vorwärtsfahren wechseln kann –

      – wir schicken eine Pershing zum Mond, heimlich unter ein Flugzeug, das gerade startet, geklemmt, zischt sie unter ihm heraus, sobald es in der Luft ist, und verschwindet in der Luft, aber wir haben ein ungutes Gefühl, dass es nicht gutgehen könnte, überlegen, was wohl wäre, wenn sie irgendwo auf der Erde explodiert und damit der Atomkrieg ausgelöst würde, und dann kommt sie tatsächlich zurück, direkt bei uns, ganz in der Nähe schlägt sie mit der Spitze in den Boden, und wir geraten in gelinde Panik, rennen schutzsuchend weg, ich will hinter einen Busch, aber das reicht nicht, sehe einen Pavillon, aber der ist auch zu schwach, doch dann breitet sich die Meinung aus, dass es eh eine Fehlzündung ist –

      – Stefan hat den Verwandten einen Brief geschrieben, auf die Frage, was los ist: es sei so, wie wenn man der schottischen Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegung heute klarmachen müsse, dass der Kampf sinnlos sei und eine Umorientierung nötig: die hatten das längst kapiert – hier einige noch nicht, aber er wolle keine Namen nennen –

      – wieder mal bei der Fantasia-Druckerei, die inzwischen mit den Hardebeker Druckern fusioniert hat und zu einem respektablen Großbetrieb, der ständig weiter fusioniert, geworden ist; Holler läuft herum, mit fast abwesendem Blick, gehört zu den Bossen, überall Baustellen, Containerhäuschen werden aufgestellt, in denen die Arbeitermassen wohnen können; es ist immer noch ein Kollektivbetrieb, aber von beklemmender Ameisenhaftigkeit, überall wuseln Männlein und Weiblein wie bewusstlos herum; ich will damit nichts zu tun haben, höchstens in einem Container sitzen und schreiben, was mir aufgrund meiner alten Verdienste jetzt zugestanden werden könnte, aber die deprimierende Atmosphäre lässt nicht nach; Kutten haben die emsigen Arbeiter an, und als eine Frau mit einem Gabelstapler in einen Haufen fährt, muss sie sich zum Ausgleich für den Schaden an dem Haufen armer Männlein, den Rock hochheben und ficken lassen – ich wende mich angeekelt ab –

      – bin in einem riesigen Hotel mit einer Filmcrew und suche einen Aufzug, aber das Ding, in das ich gehe, fährt einfach so hoch, hat keine Knöpfe und nichts, wird immer enger, ich kriege Klaustrophobie, es wird immer schlimmer, endlich hält es und ich bin wieder in der Rezeption; Esther hat Verständnis und klärt mich auf; ich hatte ja noch nichtmal einen Zimmerschlüssel, da aber niemand da ist, auch von der Produktion nicht, mit Hilfe derer ich nur an ihn käme, geht sie einfach selbst hinter die Rezeption und findet ihn auch zufällig – ich danke ihr sehr, aber unsere Verabredung zum Essen lassen wir ausfallen, weil sie müde ist; sie kommt gleich mit hoch, aber wir landen bei einer Französin im Zimmer, mit Blick auf Paris, es regnet und ist vernebelt; ich stehe auf dem Balkon und habe keine Schwindelgefühle, worüber ich mich sehr wundere –

      – wir wollen eine Film- und Videogruppe gründen, aber ich muss erstmal weg und es verschiebt sich, und als ich zurückkomme, haben zwei Neue, die an sich noch gar keine Erfahrung haben, in hervorragender Weise einen Testfilm gedreht; erst berichte ich alles, was ich vorhabe und schon erledigt habe, mehrmals, weil jemand nicht da ist, dann sehen wir uns den Testfilm an, in einem Kino, ganz langsam geht der Vorhang auf, allein das ist schon ganz ausgezeichnet, aber dann kommen sorfältigst ausgemalte Zeichentrickfilmsequenzen, und ich bin begeistert, alles genau ausgemalt von der Frau, die neu ist, ganz bescheiden ist sie, aber freut sich, und dann sitzen wir bei einem Alten, aber das ganze Haus fährt, wie ein Zug, und ist sowieso ein Film, in den sie je einen Nebenherlaufenden kopiert haben, der nicht nur genauso schnell läuft, sondern dabei auch noch Verrenkungen, Faxen und Grimassen macht –

      – sitze in einem Stuhl und sterbe; vor mir sitzt jemand und tröstet mich, betrachtet das Ganze aber relativ ungerührt, beobachtet mehr, ich sehe schon kaum mehr was, habe Angst, dass ich ersticke; er ruft, dass ich mich schon grün und blau verfärbe; es ist nicht nur oder sogar weniger Angst als Traurigkeit und Spannung, das war’s, es lässt sich nicht mehr ändern, mir wird schwindelig, es ist so weit – ein großer, ganz merkwürdiger Test, Leute springen ins Wasserbecken, und eine dicke Frau hält sich die Nase zu, meine Eltern sind auch da, meine Mutter hat einen roten VW mit amerikanischer Nummer –

      – Gert und ich haben einen gemeinsamen Besuch von Petra, müssen uns aber komischerweise umziehen, allerdings nicht Knastkleider, sondern merkwürdig normal aussehende, Gert zieht ein beiges Hemd an, ich ein blaues, es dauert aber ewig alles, es ist umständlich und passt nicht, das alte Zeug geht nicht weg, Wächter rennen herum, es ist eng, und ich muss mich auch noch rasieren, stehe da mit eingeseiftem Gesicht,