A. S. Tory und die verlorene Geschichte. S. Sagenroth

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Название A. S. Tory und die verlorene Geschichte
Автор произведения S. Sagenroth
Жанр Контркультура
Серия A. S. Tory
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783749744053



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Schul­ab­schluss nach­ho­len woll­te, tausch­ten wir uns manch­mal zu ei­ni­gen Fä­chern aus. Ma­ma fand Chia­ra da­her echt okay, ich glau­be so­gar, sie moch­te sie rich­tig gern.

      Ich klick­te mein Post­fach an. Ei­ne weiter­ge­lei­te­te E-Mail. Beim Ab­sen­der hielt ich die Luft an: To­ry!

      

       Ver­ehr­te Sig­no­ri­na Chia­ra,

       um Sid nicht er­neut in Schwie­rig­kei­ten zu brin­gen, möch­te ich Sie zu­erst an­schrei­ben. Zu­dem ent­schul­di­ge ich mich, mich so lan­ge nicht ge­mel­det zu ha­ben. Das Al­ter schlägt all­mäh­lich er­bar­mungs­los zu, und ich war ge­sund­heit­lich ei­ne gan­ze Wei­le nicht auf der Hö­he. Lan­ge ha­be ich da­rüber nach­ge­dacht, ob ich Sids Wunsch nach­kom­men und ihm mehr über mich er­zäh­len soll. Aus­schlag­ge­bend war die bei­lie­gen­de An­zei­ge. Sie hat al­te Er­in­ne­run­gen ge­weckt und mir ge­zeigt, wie we­nig Zeit noch bleibt.

       Wie Sie wis­sen, wei­le ich be­reits viele Jahr­zehn­te auf die­ser ver­rück­ten Welt. Von ei­ni­gen mei­ner Rei­sen ha­be ich Ih­nen im letz­ten Jahr in Mar­ra­kesch be­rich­tet, vieles je­doch of­fen­ge­las­sen.

       Sie könn­ten zu­sam­men mit Sid Licht ins Dun­kel brin­gen, wenn Sie das weiter­hin wol­len.

       Es soll ei­ne Rei­se sein, auf der Sie mei­ne Jugend ent­rät­seln kön­nen. Es wird aber nicht nur Schö­nes bei der Re­cher­che her­aus­kom­men. Man­ches da­von ha­be ich lan­ge ver­drängt. Außer­dem wird Sid et­was über sich selbst her­aus­fin­den und be­grei­fen, wa­rum ich ge­ra­de ihn aus­ge­sucht ha­be.

       Ich muss Sie je­doch war­nen und dies be­den­ken: Soll­ten Sie die rei­ne Leich­tig­keit in den fol­gen­den Herbst­wo­chen su­chen, wä­re ei­ne an­de­re Rei­se bes­ser. Sie­gen hin­ge­gen Ih­re Neu­gier und Aben­teu­er­lust, will ich Ih­nen fol­gen­de wich­ti­ge Fra­gen be­ant­wor­ten: Wo­hin soll es ge­hen und wie lan­ge soll es dau­ern?

       Die er­ste Etap­pe ist nicht weit: Sie führt nach Ve­ne­dig.

       Die da­rauf­fol­gen­den Zie­le sind ab­hän­gig von dem, was Sie her­aus­fin­den oder her­aus­fin­den wol­len. Es liegt in Ih­rer Hand. Die zwei Wo­chen Herbst­fe­rien dürf­ten rei­chen. Aller­dings soll­te Sids Mutter dies­mal in­for­miert und ein­ver­stan­den sein.

       Den­ken Sie in Ru­he da­rüber nach und set­zen Sie sich mit Sid in Ver­bin­dung. Wenn Sie ei­ne Ent­schei­dung ge­trof­fen ha­ben, las­sen Sie sie mich dies wis­sen. Egal, wie sie aus­fällt.

       Es grüßt Sie herz­lich

       A.S. To­ry

      

      Im An­hang be­fand sich ei­ne Gra­tu­la­tions­an­zei­ge.

       Wir gra­tu­lie­ren zum 95.

       Mar­ga­ret­he Reu­ters geb. von Ber­ne­ke

       1.9.1923

       Fa­mi­lien von Ber­ne­ke und Reu­ters

       Ber­lin im Sep­tem­ber 2018

      

      Ich starr­te aus dem Fens­ter. Die Herbst­fe­rien im letz­ten Jahr, To­rys E-Mail, mei­ne heim­li­che Rei­se. Lon­don. Ita­li­en, wo ich Chia­ra ken­nen­lern­te. Un­ser ge­mein­sa­mer Trip nach Frank­reich, Ma­rok­ko und Hol­land. Die Su­che nach ei­ner al­ten Vi­nyl­sing­le und drei Brü­dern, die plötz­lich so en­de­te, wie es kei­ner ge­ahnt hat­te. Und am Schluss die Er­kennt­nis, dass es ei­nen Mis­ter A. S. To­ry über­haupt nicht gab.

      Über ein hal­bes Jahr hat­te ich kei­ne Nach­richt mehr von ihm er­hal­ten und trotz aller Re­cher­che­ver­su­che nichts über ihn her­aus­ge­fun­den. Die Fra­ge, wer er war, be­schäf­tig­te mich nach wie vor. Wenn er mein­te, es gin­ge ihm nicht gut, muss­te dies stim­men. Woll­te ich mehr über To­ry er­fah­ren, blieb nicht mehr viel Zeit. Ita­li­en und Ve­ne­dig … Es gab für die bei­den näch­sten Wo­chen kei­ne Rei­se­plä­ne. Dass Mis­ter To­rys Ver­gan­gen­heit mit Ita­li­en zu tun hat­te, war selt­sam. Die­se An­zei­ge aus Ber­lin. Was be­deu­te­te sie? Wer war Mar­ga­ret­he Reu­ters? To­ry leb­te in ei­ner piek­fei­nen Ge­gend von Lon­don, in Ken­sing­ton. Ob­wohl er er­staun­lich gut deutsch sprach, hat­te ich in ihm ei­nen wasch­ech­ten Eng­län­der ge­se­hen. Dann die­se War­nung: Soll­ten Sie die rei­ne Leich­tig­keit in den fol­gen­den Herbst­wo­chen su­chen, wä­re ei­ne an­de­re Rei­se bes­ser. Ei­ne Vor­sichts­maß­nah­me nach den Er­fah­run­gen im letz­ten Jahr?

      Außer­dem wird Sid et­was über sich selbst her­aus­fin­den und be­grei­fen, wa­rum ich ge­ra­de ihn da­mals aus­ge­sucht ha­be. Da­mit hat­te er mich end­gül­tig ge­packt … Auch die Mög­lich­keit, Chia­ra zu tref­fen, wä­re es wert …

      Ich muss­te wis­sen, was Chia­ra da­von hielt. Oft hat­te ich mich mit ihr über den Trip im letz­ten Jahr aus­ge­tauscht. Sie war von To­ry be­ein­druckt ge­we­sen und den­noch in ih­rem Ur­teil über ihn zwie­ge­spal­ten ge­blie­ben. Ge­nau wie mich in­te­res­sier­te sie sei­ne wah­re Ge­schich­te und Her­kunft, wa­rum er un­ter dem fal­schen Na­men »Mr. To­ry« auf­ge­tre­ten war und aus­ge­rech­net mich aus­ge­wählt hat­te. Wie­so hat­te er so we­nig von sich er­zählt? War er je­mals ver­hei­ra­tet? Hat­te er Ge­schwis­ter oder Kin­der?

      Ich schick­te ihr ei­ne Kurz­nach­richt zurück. Und – was meinst du? Nach­denk­li­cher Smi­ley.

      Chia­ra schien auf mei­ne Ant­wort ge­war­tet zu ha­ben. Du ent­schei­dest. Wenn du fah­ren willst, bin ich da­bei … Du bist bei mir ein­ge­laden, okay? Zwin­ker­ge­sicht.

      Ich schrieb: Ja klar! Ich er­zäh­le auch nichts von To­ry! Und füg­te ei­nen Smi­ley mit Reiß­ver­schluss­mund hin­zu.

      Chia­ras Ant­wort kam prompt. Su­per! Sieh zu, dass du dei­ne Mutter über­zeugen kannst! Ich drü­cke dir die Dau­men!

      

      Es war dann alles an­de­re als ein­fach. Na­tür­lich war mei­ne Mutter nicht be­geis­tert. Sie er­in­ner­te mich an den letz­ten Herbst und ih­re Äng­ste, als sie mein Ver­schwin­den be­merk­te. Sie ver­wies auf die vier­wö­chi­ge Ka­na­dar­ei­se. Pa­pa war vor drei Jah­ren aus­ge­wan­dert und leb­te dort sein neu­es Le­ben. Ich wuss­te, dass ein Ur­laub in den Herbst­fe­rien nicht in Be­tracht kam. Ob­wohl mein Vater ei­nen Groß­teil des Som­mer­ur­laubs über­nom­men hat­te, war allein der Flug zu teu­er ge­we­sen, um direkt wie­der zu ver­rei­sen.

      Ma­ma tele­fo­nier­te mit Pa­pa, um auch sei­ne Mei­nung ein­zu­ho­len. Nach dem Ge­spräch sah sie un­zu­frie­den aus. »Na ja, du kennst ihn ja. Wie soll aus­ge­rech­net ein Aus­stei­ger wie er dich da­von ab­hal­ten, weg­zu­fah­ren?«, und ließ sich im An­schluss die Num­mer von Chia­ra ge­ben.

      Wäh­rend des Tele­fo­nats lief ich ner­vös vor ih­rem Ar­beits­zim­mer auf und ab. Es dau­er­te ent­setz­lich lan­ge. End­lich kam sie aus ih­rem Zim­mer,