Solo für Schneidermann. Joshua Cohen

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Название Solo für Schneidermann
Автор произведения Joshua Cohen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783731761006



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wie der nächste Satz beginnt, wie der zweite und allerletzte Satz von Schneidermanns letztem Meisterwerk, seinem bedauerlicherweise ersten und einzigen Violinkonzert, das nimmermehr beginnen wird, beginnt, dann werde ich es Ihnen verraten: mit drei Tönen,

      dam dam dam, wenn Sie mir meine summende Lippentaubheit nachsehen,

      nam nam nam, das singe ich nachts dem Steinauge meiner Großbildglotze entgegen, die drei Tonstufen werden hoch und süß ins schwirrende Summen der Stummheit gesungen, und die drei Noten bilden fürwahr einen Dur-Dreiklang, mit der der letzte und ultimative Satz dieses großen nichttonalen – um den Begriff atonal nicht zu missbrauchen – Werks anhebt, und die Noten sind G,

      E – eine Sexte hoch und ein

      C zur Auflösung in der Mitte: ein arpeggierter C-Dur-Akkord in zweiter Umkehrung, wenn Sie wollen, wenn die Theorie der Musik die von Ihnen bevorzugte Marke der Banalität ist, wenn wir da draußen im Publikum heute Abend Schenkerianer sitzen haben, und alles von der Oboe intoniert,

      nicht auf dem Xylophon wie die NBC-Titelmelodie, haben Sie nicht gesagt – das war nämlich die NBC-Titelmelodie!, wie ich im Zoo zu Schneidermann gesagt habe, während ich vor den Pinguinen in den Noten blätterte, das sind dieselben Töne!, aber Schneidermann, er antwortete nur mit diesem amerikanischen Mafioso-Akzent, den er sich in den Filmen abgeguckt hatte und zu dem er oft Zuflucht nahm, wenn er sauer auf mich war, Schneidermann, er antwortete also:

      Mamma mia, ich nix kennen MBC (Schneidermann, er war immer halb schicklich, alteuropäischer Immigrant, und halb aus den Matineefilmen, von daher wusste man nie, was war jetzt Ironie und was senile Weltfremdheit und was gar nichts).

      Das kannst du nicht nehmen!, sagte ich im Aquarium, jeder kennt das!, hallte es nach, und selbst ein prähistorischer Ichthys stimmte zu. Das ist die alte Titelmelodie von NBC zum Sendeschluss, sagte ich, wobei die heute eh nichts Anständiges mehr senden.

      Schneidermann zu mir: Aber das ist ein Dreiklang, ein Dur-Dreiklang in zweiter Umkehrung, Quinte, Terz, Tonika. Findest du bei jedem x-beliebigen Bach öfter, als du in deinem Leben Luft geholt hast.

      Aber das ist die NBC-Titelmelodie!, beharrte ich auf dem ganzen Weg zum Reptilienhaus. Meine Zunge eine Schlangengabel, um seinen schlanken Stolz zu fressen. Das sind die drei berühmten Glockenschläge, sagte ich: Sie hören (in meiner besten Ansagerstimme à la General Sarnoff oder Paul Whiteman)

      die National Broadcasting Company, DONG DONG DONG.

      Die Leute werden lachen (und ich lachte wie der asthmatische Affe, der ich bin).

      Schneidermann zu mir: Aber sie sollen nicht (lachen).

      Nimm das nicht! Das kannst du nicht! Das ist sowieso urheberrechtlich geschützt, Patent was weiß ich, eingetragenes Warenzeichen, intellektuelles/musikalisches Eigentum der Nationalen Broadcasting-Kumpanei von unbegrenzter Dauer. Die verklagen dich! Das gehört denen!

      In den Zwanzigern zählte der NBC-Ansager am Ende einer Sendung die Sendezeichen aller NBC-Stationen auf, die die Sendung ausgestrahlt hatten (was ich damals nicht wusste, hätte aber auch nichts genützt, Schneidermann, er gab nichts auf Geschichte), aber mit immer mehr angeschlossenen Sendeanstalten wurde das irgendwann unpraktisch, sorgte für Verwirrung, wann das Netzwerk-Programm denn nun eigentlich vorbei war und wann die Sendepause, die sollte auf die volle Stunde fallen oder eine halbe Stunde, und dann wurde ein Koordinierungssignal erfunden, wie mir dann später irgendwann ein prominenter Musikwissenschaftler in Basel erklärte, für den Americana ein irgendwie peinliches Hobby waren,

      ein Zeitvertreib, eine wertlose Nebenbeschäftigung, wenn auch vordergründig legal, jedenfalls kamen drei Männer, deren Namen der Musikwissenschaftler vergessen hätte, sorry, sagte er, in der Musikabteilung von NBC, nach allerlei Versuch und Irrtum oder Irrtum und Versuch, denn was kommt zuerst? auf die einfache Lösung, oder jedenfalls hielten sie das damals für die einfachste Lösung, nämlich dieses G–E–C, wie ich später erfuhr, als ich fragte

      und die Antwort bekam, B und C wären zwar Töne, N aber nicht, deshalb hätten sie die Idee fallengelassen, was ich erst später erfuhr, und dann entschieden sie sich für den C-Dur-Akkord, wie mir mein Musikwissenschaftlerfreund in Basel erklärte, eine nachhallende Lösung, fand er, kraftvoll, friedlich, aber Schneidermann sagte ich nur (da ich das alles noch nicht wusste, sondern mir nur wegen der Entlehnung, egal ob bewusst oder unbewusst, Sorgen machte):

      Das ist die Musik eines amerikanischen Unternehmens! Die hetzen dir ein Rudel Anwälte auf den Hals, und dann musst du Haare lassen!

      Schneidermann zu mir: Ich bin kahl, und das ist Musik. Das gehört der Musik.

      Aber das ist so leicht zu erkennen! als Komponist kannst du das nicht verwenden! als ästhetische Entscheidung ist das unentschuldbar! Es ist sogar in derselben Tonart, Oktave, alles. N. – sang ich (asthmatisch nachäffend) – B. C. Herrgott, die treiben dich in den Bankrott!

      Schneidermann zu mir: Ich bin schon bankrott.

      Schneidermann, er war kahl, ja, und schon bankrott, ja, immer, lebenslänglich, ja, das stimmt, und er hatte zwar einen Fernseher, einen alten Zenith, und der lief auch den ganzen Tag (wenn ich seine Kabelrechnung zahlte), aber Schneidermann, er schaltete ihn immer stumm, ob nun den WETTERKANAL oder QVC, wie das Kürzel am Ende philosophischer Traktate, woher hätte er das also wissen sollen? so kahl, dass man, wenn er unperückt und enthutet war, nicht sagen konnte, wo der Schädel aufhörte und der Himmel anfing, so bankrott, dass er Schuhe Marke Joe the Turk von der Heilsarmee trug, drei Größen zu lang und zwei zu breit, die ihm auf Schritt und Tritt vom Fuß fielen: auf dem Weg zur U-Bahn, zum Bus Nummer M-weiß-ich-nicht-mehr, wenn seine Haltestelle 137th Street / City College wieder mal nicht befahren wurde, was oft der Fall war,

      den ganzen Weg lang, auf dem Weg ins Kino, der Bus M5 oder 11 fuhr zu den amerikanischen Matineefilmen, und im Kino hab ich Schneidermann das letzte Mal gesehen: das war wie immer im Kino, wie immer bei einer Matinee, nicht oben auf der Leinwand, sondern zwei Plätze weiter, dem übernächsten Sitz, unsere Jacken fehlgeleitete, nutzlose, von Sperma dampfende Ergüsse in der Mitte, auf dem einen Platz zwischen uns, frei oder nur von meinem Pelz und seinem Fetzen besetzt, aus beiden stieg klamme Feuchtigkeit auf; dass wir eine kaputte Sprungfeder auseinander saßen, war Tradition, war Norm geworden,

      das gute alte, welche Exfrau benutzte noch diese umgangssprachliche Kurzform der Versicherung des nach guter alter Gewohnheit,

      wenn wir einen Sitz auseinander saßen, konnten wir zusammen sein, wenn es nicht peinlich war, und auseinander, wenn es peinlich wurde (Liebesszenen, Sexszenen, Szenen mit Liebe & Sex, Sodomieszenen, die Szene, wo der Jugendliche seinem alten Cockerspaniel einen Rasenmäher in den Anus rammt),

      das war unsere Gewohnheit, zwei alt gewordene Genies der Krankenscheinwerfer kuschelten sich aneinander, wenn unser Anstandsgefühl das erlaubte, und sahen diesen Film, verfolgten diesen einen letzten Matineefilm genauso wie alle anderen, die wir zusammen in den fast fünfzig Jahren gesehen hatten, die Schneidermann und ich zusammen ins Kino gegangen sind und in denen wir alles gesehen haben (Dreck),

      gesehen haben müssen (Müll),

      das war unser Ding,

      diese Matineefilmbesuche, Schneidermann und ich waren vor allem anderen (zusätzlich zu und neben uns als Musikern, Künstlern, Genies, Amerikanern, Europäern, Juden) Matineefilmbesucher – Matinee kommt zumindest laut Schneidermann aus dem Französischen, man besucht also in Europa eine Matinee am Morgen im Gegensatz zu einer amerikanischen Matinee am Nachmittag oder einer Soiree am Abend (in meinem Penthouse im Grand, amerikanischer Whiskey, spanglischer Turn-down-Service),

      Matinee kommt vom französischen matin und bedeutet Morgen, wie Schneidermann mir nur einmal und nebenbei eines Junitages um die Matralia herum mitteilte, zufälligerweise nach irgendeinem Matineefilm nach vielleicht fünfundzwanzig unserer insgesamt fünfzig Jahre, matin aus dem Altfranzösischen, sagte Schneidermann, matines bedeutet Morgen, aber einen älteren Morgen, außerdem das erste Offizium mit Laudes des Tages, die erste kanonische Stunde der sieben kanonischen Stunden des immerwährenden Kirchentages, was genau währt da eigentlich immerzu? Morgendämmerung, Sonnenaufgang, obwohl Schneidermann und ich