Solo für Schneidermann. Joshua Cohen

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Название Solo für Schneidermann
Автор произведения Joshua Cohen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783731761006



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von Brezeln auf salzloser Straße) matinierten oder matineefilmierten,

      das Französisch geht, Schneidermann zufolge an jenem Juninachmittag, zufälligerweise um die Matralia herum, worauf Schneidermann mich später, nach diesem Matineefilm nach den ersten fünfundzwanzig Jahren, hinwies, auf lateinisch matutinus oder matutinae zurück: die Morgenwachen zu Ehren der Matuta, der römischen Göttin der Frühe, Schutzpatronin, falls Sie das nicht gewusst haben sollten, der Neugeborenen, der Meere wie dem Atlantik und der Häfen wie dem von New York, zumindest laut Schneidermann, aber der Begriff der Matinee muss, als er aus dem alten Rom nach Frankreich gewandert und dann durch den Atlantik geschwommen ist, etwas Zeit verloren haben und bezieht sich in den Ver. St. von Am. heute auf den Nachmittag – und Schneidermann, na, der ging einfach in der Mitte, in der Mitte oder grob um die Mitte dieses letzten Matineefilms von fast fünfzig Jahren unserer Matineefilme (Aberhunderte! Abertausende!), Schneidermann, er stand einfach auf und ging mitten im Film, im Lauf des Lebens dieses Films, im Lauf der Leben dieses Films, nach vielleicht einer Stunde und ein paar Minuten,

      sagen wir achtzehn, sagte ich bei der Polizei dann aus,

      gegen 16.00 plus/minus Werbung, Trailer und MGM-Leo, Metro-Goldwyn-Mayer, der sternenumzingelte Löwe Samsons, der ihr Motto rausbrüllte, das Schneidermann liebend gern anzweifelte, bei dem er sich ständig unsicher war, dieses ARS GRATIA ARS-Spruchband um den Filmstreifen herum, dem Schneidermann zustimmen musste, wie denn auch nicht? bei den Zahlen? Von wegen Copia iudicium saepe morata meum est, verstehen Sie? Auf Befragen gab Schneidermann oft zu, bei all diesem Kunst um der Kunst willen, l’art pour l’art, art for art’s sake, das nicht mal berühmtes antikes Latein war, sondern bloß eine moderne Übersetzung von irgend so ’nem MGM-Platzhirsch, Schneidermann, er wollte immer noch ein Purist sein, das war sogar sein größter Ehrgeiz, denn mal im Ernst, glaubt denn irgendwer, die größte Kunst wäre die, die sich selbst dient? und nur sich selbst? Schneidermann, der hat sich das immer gefragt und nicht nur sich selbst, glaube ich, und geantwortet hat er mit Ovid: spectatum veniunt, veniunt spectentur ut ipsae und so weiter, die wollen sich nicht nur was anschauen, die wollen selbst gesehen werden, Schneidermann, er hat nie wir gesagt – das ist drei Wochen her, und ich dachte, Schneidermann, er wollte nur pissen gehen (sein Pissorgan machte ihm immer Scherereien, oft pisste er einfach in seinen leeren Mineralwasserbecher – an den Imbissständen waren wir Stammkunden; ich flirtete immer mit den Verkäuferinnen, die den stärksten Bräunungslack trugen),

      vielleicht hab ich mir auch gesagt, er würde um eine weitere Gratisportion Popcorn oder ein Mineralwasser non gassata feilschen, wollte flüssigen Nachschlag (Schneidermann, er frequentierte immer die Getränkestände und das mit meinem Geld; für ihn war das kostenlose Nachfüllen Amerikas größter Beitrag zur Weltkultur, und nichts liebte er so wie die Wendung KAFFEETASSE OHNE BODEN),

      aber Schneidermann, er kam nie zurück, verschwand einfach, ward danach oder seither weder gesehen noch gehört, sein Apartment – wenn man das Apartment nennen konnte; seine Einzimmerwohnung, sein Kabuff – blieb unangetastet, und ich glaube nicht, dass ich zum Signieren, zu Interviews und Fototerminen aufs Revier geschleift wurde.

      Wurde ich auch nicht. Ich bin von selbst hingegangen, habe ihn aus eigenem Antrieb als vermisst gemeldet, trotz des mannigfaltigen Drängens und dringenden Anratens meiner Anwälte und ihrer Anwälte, die sie in solchen Was-ist-wenn-Fällen konsultieren, bei Ich-habe-einen-Freund-dessen-Freund-Szenarien, wie wir sie alle ersinnen und nach denen wir handeln – ich ging meinen Gattennachfolgern und Exfrauen da draußen zum Trotz, ihrem Bitten, Betteln und Barmen zum Trotz, all dem Musst-du-dich-denn-unbedingt-in-die-Nesseln-setzen? dieser Frauen, denen scheinbar immer noch an mir liegt, aber warum? Man braucht doch keine Gefühle, um meine Schecks einzulösen. Ihr müsst euch nicht mit dem Herzen ausweisen.

      Warum steht ihr immer alle auf der Matte, wenn ich diese Erbsündennummer spiele?

      Steht auf, meine Lieben. Oder lieber nicht. Aber tut mir einen Gefallen – oder erweist ihr mir damit eine Ehre? hört zu, versucht wenigstens zuzuhören. Ich muss euch etwas sagen, euch, die ihr Schneidermann immer nur Ressentiments entgegengebracht habt, euch, die ihr

      meinem Schneidermann immer nur Ressentiments entgegengebracht habt, denn so habt ihr ihn immer genannt und euch standhaft geweigert, ihn zu unserem zu machen, einem von euch,

      aber erst mal hätt ich jetzt gern etwas Wasser – non gassata! Juden hassen Gas! – irgendwer kann doch wohl mal mit einem hohen Tier sprechen, in den Park rausgehen und an einen Fels schlagen oder so, meinetwegen kann er auch mit einem Erinnerungsbecher in den Styx runtersteigen.

      Niemandem sei Dank.

      Ein paar Fragen: Welche von euch hat die Eurydike zu meinem Orpheus gegeben (vorausgesetzt, ich bin einer)? Welche von euch habe ich am ehesten gerettet, oder bei welcher habe ich mein Äußerstes für eine Rettung getan? Aus der Armut, dem Elend, vor ersten Gatten, zweiten und Ladenhütern, vor dem fehlenden US-amerikanischen Bürgerrecht, vor dem Mangel an Talent?

      Also, wer war meine Eurydike?

      Oder Euer-Id-is’-sie, und wehe, ihr mittelmäßigen Massen da draußen, ihr bemitleidet meine geigenförmigen Frauen. Wie ich, als ich sie geheiratet habe. Denn die Schönen oder Reichen verdienen kein Mitleid, und Sie glauben mir nicht? Wenn nicht, dann fahre man doch bitte mal das Saallicht hoch? nein? damit ich sehen kann, wer hier grade alles geht und die Türen hinter sich zuknallt, ja?

      schwups, verschwindet die Hälfte der Blechbläser hinter mir

      und zieht auf dem Weg in die Seitenbühne dicke Speichelspuren hinter sich her,

      kennen Sie die Definition von Optimismus?: ein Tubaspieler mit Visitenkarte; ich hab für meine Visitenkarten übrigens doppelt so viel bezahlt, weil ich einfach nur GENIE hab einstanzen lassen – die verteile ich aus lauter Trotz,

      Herrgott noch mal! die ganzen Oboistinnen sind ja auch weg! die Stimmsirenen, die gerührten Köpfe des Orchesters: der ganze Anblasdruck, ein reiner Verkehrsstau, hat unvermeidliche, vielleicht aber auch gebenedeit beneidenswerte Hirnläsionen zur Folge, wussten Sie das nicht? wie konntet ihr mir das antun, Läsionärinnen? ganze sechs braucht man für das Konzert, das ich hier an mich gerissen habe, das Konzert, das ich jetzt ruiniert habe, das Konzert, an dem ich jetzt gescheitert bin.

      Ich hege den Verdacht, dass meine Frau, welche? dass die alle Oboe spielen: diese Lippen wie Kissen, und die absolut vollkommene Blödigkeit, die vollkommen absolute Blödigkeit von ihnen allen – meine erste Frau hat mich wegen meiner Musik geliebt, die zweite wegen meines Ruhms, die dritte wegen meines Gelds und die vierte auch, die aber auch schon meine erste war, und meine fünfte war nur meine fünfte: Scheidung, Scheidung, Scheidung, Scheidung, Scheidung, und jetzt bin ich bei meiner sechsten,

      nein,

      meiner siebten, oder? genau genommen nicht rechtskräftig, na ja, außer Landes (Kanada, aber ausgesehen hat’s wie in der Schweiz), von der fünften bin ich nur getrennt, obwohl,

      ich sollte endlich die Klappe halten, einen Knebel bestellen, meinen Anwalt konsultieren oder den Anwalt meines Anwalts. Oder meinen Seelenklempner. Aber was will sie eigentlich von mir, Nummer sechs? Der Seelenklempner meines Seelenklempners würde vielleicht sagen, sie will mich aus allen eben genannten Gründen.

      Frau Nr. sechs ist ein Sopran. Und jeder Tenor ist Bass erstaunt, dass sie nie Alt wird. Der ist gut, ne? Und was ist der Unterschied zwischen einem Lamborghini und einem Sopran? Sie würde Ihnen nicht antworten, dass die meisten Musiker noch nie in einem Lamborghini waren, hahaha,

      aber lassen Sie sich von meinem Husten nicht stören! Der hat mich schon seit Jahren, und ja, Doc, ich weiß, ich muss aufhören, in meinem Alter und so weiter, sollte mit dem Rauchen aufhören – hat mal jemand Feuer?

      Nein?

      Ja?

      Danke. Sehr verbunden. Einen herzhaften Applaus bitte für den Mentsch in der Mitte der ersten Reihe, der das Streichholzheft eines Bistros hier um die Ecke hatte, der Laden heißt Giorgione’s, liegt an der Madison, Ecke Paarundfünfzigste, ist von Zagat geprüft worden und hat von Michelin viel zu viele Sterne bekommen, ein gutes, gutes, gutes Lokal – möchte jemand die Telefonnummer?