Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Isolde Kurz |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962812515 |
Was die Griechen mir gaben, hat auf allen Altersstufen ein neues Gesicht getragen und mich immer zu neuem Dank verpflichtet. Denn dieses Volk hat sich ja immer wieder mit neuen Zügen vor der alternden Welt verjüngt, und ihre Bedeutung wird niemals auszuschöpfen sein. Für mich ging sie über den poetischen Genuss weit hinaus ins Ethische, in die eigentliche Lebensanschauung über. Der tragische Untergrund, auf dem sie stehen, gab schon dem Kinde die Ahnung von der Unsicherheit alles menschlichen Geschicks und dass das Leid mitübernommen werden muss, wenn unserem höheren Ich sein Wille geschehen soll. Diese Erkenntnis, im Gefühl entsprungen, wenn auch noch nicht im Begriff erfasst, stärkte mich für die Widerwärtigkeiten, denen ich an der Schwelle der Jugend entgegenging.
Jene Art Unterdrückung, die an der gleichen Fähigkeit des weiblichen Geistes zweifelt, habe ich an mir selber nicht erfahren. Geisteswege lagen vor mir, sie gingen strahlig nach vielen Seiten: der Humanismus war mit der Muttermilch überkommen, später brachten die Brüder die Naturwissenschaften ins Haus, freilich nur in den fertigen Schlüssen, nicht mit dem Weg, auf dem sie erarbeitet waren.
Auch das Vatererbe des Humanismus war zunächst nur in seinen Auswirkungen vorhanden, als Lebensstil wie als innere Stellungnahme. Im einzelnen hieß es, das Erbe erwerben, um es zu besitzen; hiefür gab es Wink und Fingerzeig, es gab unermüdliche Anregung von seiten einer Mutter von unerschöpflicher Geistigkeit, aber sprunghaftem, allem System widerstrebendem Naturell. Unser abendliches Lesen der griechischen Geschichte aus dem Herodot war mehr ein Spielen mit Bausteinen als ein wirkliches ernstes Bauen, dennoch hat es uns alle in der Welt der Griechen für immer heimisch gemacht. Nur Erwin, der Zweitjüngste, der als Augenmensch und künftiger Künstler mehr im Sichtbaren zu Hause war, entzog sich diesen Anregungen, hat aber das damals Übersehene in reifen Jahren glühend nachgeholt.
Ich wusste nichts von der Umwelt, in der ich lebte, denn ich kannte nur mein Elternhaus. Aber diese Umwelt wusste leider von mir und nahm an dem bloßen Dasein des fremdartigen Kindes, das mit den Heroen und Göttern Griechenlands aufwuchs, Anstoß, denn sie selber war das Rückständigste, was es gab, wennschon die hochgelehrte Universitätsstadt des hochgelehrten Schwabenlandes. Aber diese Gelehrsamkeit glänzte nur auf dem Katheder; in den Familien, die trotz der ausgeprägtesten Männerherrschaft, vielleicht gerade deshalb, ganz das Gepräge der Frau, nämlich der unwissenden, trugen, herrschte die dunkelste Unbildung. Mit meinem Heranwachsen wuchs der Gegensatz. Alles Schöne, wofür ich erglüht war: Poesie und Kunst, Pflege und Stählung des Körpers durch das was man heute Sport nennt und was nur gegen den Widerspruch der öffentlichen Meinung durchzusetzen war, galt für nahezu diabolischen Ursprungs. Am meisten wehrten sich die Mütter und Töchter der kleinen Stadt gegen solch ein junges Menschenwesen, in dessen offenbar verfrühtem Erscheinen sie das Heraufdämmern einer neuen, ihr ganzes Herkommen in Frage stellenden Zeit ahnen mochten. Die Tragik dieser Verfrühtheit, in die mich die Natur gerufen hatte, war die widrigste von den widrigen Schicksalsmächten, die mich an der Schwelle des Lebens empfingen. Dass es mir ohne äußere Hilfe gelang, sie wenigstens teilweise zu überwinden, schreibe ich der Gnade des freundlichen Gestirnes zu, das mich bei der Geburt angeblickt hatte. »Das meiste nämlich vermag die Geburt«, singt Hölderlin, »und der Lichtstrahl, der dem Neugebornen begegnet.« Eine seltsame Naturanlage half dabei nach, die mich die feindselige Außenwelt in Augenblicken, wo ich nicht unmittelbar unter ihr litt, mehr wie einen bösen Traum als wie eine lebendige Wirklichkeit ansehen ließ oder höchstens wie eine wilde Insel, auf die mich ein Schiffbruch verschlagen hätte.
1 Aus: Der Mythus von Orient und Okzident <<<
Zweites Kapitel – Mutterrecht
Die im Vorstehenden geschilderten Zustände schufen nur den äußeren Ring der Schwierigkeiten, die meinen Weg ins Leben umlagerten. Es gab noch einen engeren, der aus der nächsten Umwelt, aus dem Angehörigenkreise selber kam. Ich habe mich später in der Welt oftmals gewundert, wie locker in den meisten Familien der Zusammenhang ist, wie schnell das Band zwischen den Geschwistern versagt, wenn sie einmal das gemeinsame Nest verlassen haben, und wie wenig auch Kinder bedeutender Menschen von der Jugend und sogar von dem miterlebten Leben ihrer Eltern wissen; von den Großeltern ganz zu schweigen, die im Zwielicht zu verdämmern pflegen. Bei uns war es anders. Wir bildeten nicht nur eine Familie, sondern eine enggeschlossene Geistesgemeinschaft, die auch in das dritte Folgegeschlecht nachwirken sollte. Aus dieser nahen Verbundenheit heraus konnte ich nicht nur die Geschichte meiner Eltern, sondern auch die der Voreltern erzählen, weil mir das lange Gedächtnis meiner Mutter und das noch längere ihrer Josephine, genannt Fina, die sie in Windeln betreut hatte, zur Verfügung stand. In unserem Hause konnte es auch keinen Kampf der Generationen geben, denn meine Eltern hatten selber schon so weit vorne begonnen, dass die Zeit ihnen noch lange nicht nachkam. Dieser gemeinsame Gegensatz gegen eine noch lange nicht nachkommende Zeit war es dann auch, was uns Geschwister so enge zusammenband, dass wir eine eigene, ganz auf sich gestellte Welt bildeten, in der wir uns gegenseitig Wohl und Wehe bedeuteten und aus der wir uns die Maßstäbe für das Leben holten, wo aber auch die inneren Erschütterungen nie zur Ruhe kamen. Es sei jedoch betont, was heute nicht mehr so selbstverständlich ist wie damals: dass den vielen Reibungen niemals ein materieller Anlass zugrunde lag und dass die Frage von Mein und Dein, Missgönnen und Selberhabenwollen im Familienkreis nie eine Rolle gespielt hat.
Als der Dichter Hermann Kurz aus dem uralten, schon um 1400 genannten Reutlinger Bürgerhause der Glockengießer und Ratsherrn Kurz (richtiger Kurtz) die hochgemute, von Vaterseite aus kurländischem Adel stammende Freiin von Brunnow heiratete, erwuchs aus diesem Bunde zweier kristallklarer, von den gleichen Idealen erfüllter und geistig ebenbürtiger, aber im Naturell grundverschiedener