Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Isolde Kurz |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962812515 |
Denn auch zwischen ihr und ihm stand ich als die natürliche Verbindungsbrücke. Ihre vergötternde Liebe, die immer angstvoll an seinen Augen hing, konnte ihm nur das Eine nicht geben, das sie selber nicht besaß, Ruhe und Harmonie, deren der Dichtergenius bedarf. Ich hatte genug vom Wesen beider in mir, um ihn wie sie zu verstehen. Dafür hatte mir die Natur schon ein äußerliches Zeugnis aufgeprägt, indem sie mir in der linken Handfläche eine genaue Wiederholung der zahlreichen, zarten, vielverästelten und vieldurchschnittenen Linien seiner beiden Hände mitgab, worin sein höchst verfeinertes Gemütsleben und seine von Gegengewalten durchkreuzte Laufbahn ihr schwermütiges Siegel wiesen. Die von der Mutter stammenden Linien der Rechten, die wenigen, einfachen, langauslaufenden, wurden als Schwung und Kraft und Freude gedeutet. Mein Vater, der auf alle geheimen Runenzeichen achtete, entdeckte als erster in meinen Kinderhändchen das seltsame Naturspiel, ohne nach der Auslegung zu suchen, die ich erst viel später durch Sibyllenmund empfing. Diese zwei gegensätzlichen Blutmächte haben dann auch abwechselnd mein Leben regiert, freilich nicht in der grundeinfachen Weise, dass mir von der einen Seite alles Freudige und Lichte, von der anderen alles Dunkle und Tiefe vererbt wäre, denn auch mein Vater war von Hause aus ein Sonnenmensch und nur durch die Ungunst einer schwächlichen und ärmlichen Zeit, die die Wucht seiner Muse nicht tragen konnte, getrübt und gehemmt worden, und andrerseits war die Mutter nicht bloße Urkraft, nicht bloßes Schwungrad, sondern ebenso schmerzvolle Liebe, Mater dolorosa und Mitträgerin alles Menschenleids. Also waren die Blutströme der beiden schon jeder in sich selbst widerspruchsvoll, bevor sie sich in meinen Adern zu neuem, noch widerspruchsvollerem Blutgebilde mischten. Wir alle sind ja nicht wir, sondern hängen mit unserem Sein und Tun von denen ab, die vor uns waren.
Es hat wohl nie ein Familienhaupt gegeben, das weniger von den Angehörigen forderte als mein Vater. Dieses Wenige: Einschwingen in seinen Rhythmus, Sicheinfühlen in seine augenblicklichen Gemütsbedürfnisse, konnte er nur bei der Tochter finden, die schon als Kind die Eigenheit hatte, die Seelenschwingungen der anderen in sich nachzittern zu fühlen. Die Söhne in ihren Entwicklungskrisen waren zum Eingehen in ein anderes Innenleben nicht geeignet. Wenn ich leise in sein Zimmer trat, glänzte er auf, meine Hand auf seiner Stirne nahm ihm den Kopfschmerz weg, mit mir am Arm durch die Straßen zu gehen machte ihn selig, denn mein Mütterlein mit ihrer stürzenden Geschwindigkeit und dem beträchtlichen Größenunterschied zwischen ihr und dem hochgewachsenen Gatten konnte nicht Schritt halten. Als ich ein Jahr vor seinem Tod nach dreimonatigem Aufenthalt in Frankreich wieder dem Rauch des Heimwesens entgegen dampfte, hielt er es in der Erwartung nicht aus, er musste mir zu Fuß bis Reutlingen entgegengehen, um mich eine halbe Stunde früher in die Arme zu schließen. Wohl in noch höherem Grade als sie bedurfte er meiner, doch hatte er nichts Forderndes und wartete schonend ab, was Kindesliebe ihm geben sollte. Aber wie viel zwingender ist doch die Bindung an den Schoß, der uns getragen, an die Brust, die uns genährt, an die Hand, die unsere ersten Schritte geleitet hat, als an das väterliche Haupt, wie verehrungswürdig es auch sei. Ich kann mich von dem Vorwurf nicht freisprechen, ihm weniger Zeit gewidmet zu haben, als ihm wohlgetan hätte. Nur dass ich in seinem letzten Briefwechsel mit Paul Heyse seine Antigone hieß, weil ich ihn auf Wanderungen scheinbar sorglos zu umsorgen wusste, tröstete mich später über manches Versäumnis, dessen Dorn ich im Herzen trug.
Auch bei der politischen Meinungsverschiedenheit, die durch den deutsch-französischen Krieg in die Ehe der beiden Achtundvierziger eindrang, hielt mein Dazwischenstehen den inneren Riss zusammen. Denn meine Mutter, die Offizierstochter, verabscheute das Waffenwerk und sah in jedem Krieg nur immer eine Schlächterei; einen gerechten Krieg konnte es für sie überhaupt nicht geben, am wenigsten, wenn der Hohenzollernfürst, der die Revolution blutig niedergeworfen hatte, an der Spitze stand. Mein Vater, der Dichter, dessen Seherblick über die Jahrhunderte hinging und tief in die Völkerseelen eindrang, ergriff den geschichtlichen Augenblick und begrüßte als höchste Wunscherfüllung das neugeborene Reich, »nicht ein römisches Reich deutscher Nation, hohen und hohlen Klangs von ehedem, sondern zum ersten Mal im Lauf der Geschichte ein deutsches Reich«. Es hatte schon über seinen Knabenjahren als ungreifbare Herrlichkeit und Heiligkeit geglänzt in Gestalt der alten Reichsadler, die seine kurz zuvor noch reichsunmittelbar gewesene Vaterstadt Reutlingen aufbewahrte. In diese Erkenntnistiefe konnte ihm seine Gattin nicht folgen; für sie gab es keine geschichtliche Wirklichkeit, nur das Prinzip, das ja schon mit ihr geboren war und sich, sobald es ihr von ihrem Hauslehrer auch begrifflich nahegebracht wurde, blitzartig und für immer mit ihrem Bewusstsein verband. Dabei übersprang sie das Nationale zugunsten einer künftigen Menschheitsgemeinschaft; ihre Söhne im Gären der Jugend teilten mehr oder weniger ihre Denkart. Ihr zerriss es das Herz, anders fühlen zu müssen als der Mann den sie anbetete, aber was sie für wahr hielt, konnte sie weder ableugnen noch unterdrücken. Mein Vater vermied Erörterungen und tat was sein Gewissen forderte, indem er in der Öffentlichkeit für seine Überzeugung eintrat, die für ihn kein Bruch mit seiner revolutionären Vergangenheit war, sondern nur die Umbiegung des allzu hoch gespannten Wunschziels einer großdeutschen Republik in das Erreichbare: ein Deutschland ohne Österreich. Der Süddeutsche, der während des Bruderkriegs mit ganzer Seele auf seiten Österreichs gestanden hatte, musste dieses edle Glied am Leibe des neuen Reiches schmerzlich vermissen, aber die Wiedervereinigung des Getrennten blieb ihm »der sichere Zukunftsgedanke«, dessen Vertagung die Lebenskraft der Gegenwart nicht beeinträchtigt. In seinen frühen Schriften finden sich die Worte