Название | Gesammelte Werke |
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Автор произведения | Isolde Kurz |
Жанр | Языкознание |
Серия | Gesammelte Werke bei Null Papier |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783962812515 |
Trotz der frühen Stunde waren wir nicht die Ersten, die ihn fanden. Eine Wache war schon bei ihm aufgestellt, um zu verhindern, dass jemand ihn berühre, ehe das Gericht zur Stelle sei, und eine Anzahl Menschen stand gaffend in der Nähe.
Die Wache wollte uns das Herantreten verwehren, aber mit einem Sprung war Kuno bei dem Toten und rief außer sich:
Gustav! Gustav! Was hast du getan! Ich kann dir nicht mehr helfen, ich kam zu spät, um zu retten. Du hast dein Gewand weggeworfen, bevor drüben das neue für dich gewebt war. Was soll nun aus dir werden?
Verzweifelt sah er sich nach allen Seiten wie nach einem unsichtbaren Retter um:
Ihr guten Geister, die ihr zum Schutz für die Unglücklichen da seid, lasst ihn nicht nackt und frierend umherirren. Deckt ihn mit euren Fittichen, haltet ihn an eurem Brustflaum warm, bis er wieder hat, worein er sich hülle.
Achtlos auf die Umherstehenden, sprach er bald auf den Entseelten ein, als ob dieser ihn noch verstehen könne, bald zu den Überirdischen, deren Beistand er ihn empfahl.
Die Gaffer, soweit sie die deutsche Sprache verstanden, wurden von Scheu und Schauder erfasst und bekannten später, dass sie sich gefürchtet hätten.
Die ganzen Tage, die der Tote noch über der Erde verbrachte, war Kuno wie von Sinnen. Er klagte sich aufs bitterste an, dass er zu langsam gewesen sei, die Seele, der er sich zugeschworen hatte, vor ihrem schwersten Missgriff zu bewahren. Die Not des Freundes, die für uns andere beschlossen war, für ihn begann sie mit seinem Ende.
Bevor der Sarg zugenagelt wurde, kniete er noch einmal bei dem Toten nieder und blickte lange in das entseelte Angesicht, das einen Ausdruck leidvoller Erhabenheit trug. Dann beugte er sich zu seinem Ohr herab, und man hörte ihn dumpf und eindringlich sagen:
Wiederkehren! Besser machen!
Die Blumen auf Selmas Hügel waren noch nicht verwelkt, als wir den ungleichen Schicksalsgefährten neben ihr zur Ruhe brachten. Nur wenige schlechte Freundeskränze schmückten den Dichtersarg. Zuletzt kam ein Knabe und legte einen vollen schweren Lorbeerkranz nieder, dessen weiße Schleife die überraschende Aufschrift zeigte: Von Olaf Hansen. Kuno sah mich durchdringend an, aber das Rätsel löste sich auf natürliche Weise. Angela hatte das Goldstück, das ich noch immer mit einem von Olafs Hand beschriebenen Blättchen bei mir trug, aus meiner Brieftasche genommen und es gemäß dem Wunsch des Längstverblichenen in die ernste Huldigung für den Größten unseres Jugendkreises verwandelt.
Bevor wir abreisten, schüttete ich die verkohlten Papierreste, die wir in Gustavs Kamin zusammenkehrten, in den See, damit nicht die Asche seiner Kinder im Straßenkehricht ende. Die Urschrift des »Befreiers« ist, soviel Kuno Schütte danach fahndete, niemals wieder zum Vorschein gekommen.
Als ich nach Jahren allein und von dem Engel meines Lebens durch das Grab geschieden, zum ersten Mal die Stelle wieder betrat, da fand ich sie durch den einfachen liegenden Stein bezeichnet, den unterdessen dichtes Efeugeschling umwuchert hat.
Kein Name stand darauf. Nur die seltsam ergreifende Inschrift:
Lasset die Toten ruh’n!
Vergebung sei ihr schützendes Bahrtuch,
Und drüber schweige die große Stille.
Wer den Stein gesetzt und den Spruch verfasst hat, konnte ich nicht erfahren.
Widmung
Der
Herrin und Gestalterin
des
Wunderschlosses Bellosguardo
im Gedenken
an die gemeinsamen Fahrten
durch
italische Lande!
Der Wanderer
Er war über den Consumapass gekommen um das Casentino nach allen Richtungen zu Fuße zu durchstreifen. Frühsommer lag über der Bergwelt und verjüngte ihre herben Züge durch das zwischen dem dunklen Eichen- und Kastaniengrün vordringende neue Birken- und Buchenlaub; an den Abhängen leuchtete der goldgelbe Ginster; die Sonne hatte schon beträchtliche Kraft. Den Wanderer störte sie nicht, sein sehniger Körper kannte keine Erschlaffung. Er hielt in den Wäldern Mittagsrast, und wenn er irgendwo an verschwiegener Stelle unter der Brause eines Wildbachs gebadet hatte, fühlte er seine Glieder kraftvoll und geschmeidig wie den biegsamsten Stahl.
Er war kein Wanderer, wie sie alle Tage des Weges gehen, um den Kopf zu lüften und die Füße zu vertreten oder auch des bloßen Ankommens wegen, er war vielmehr einer, der immer in Wanderschuhen ging, dem das Wandern Zweck und Sinn des Daseins, ein währender Tempeldienst im Heiligtum des Geschaffenen war. Nicht mehr jung und noch nicht alt, auf dem Scheitelpunkte des Lebens, wo die Waage für eine Weile stillzustehen scheint, ging er seines Weges, besitzlos und wunschlos, als ein Liebender der Natur und ein Gehör für ihr heimliches Weben. Darum verirrte er sich nie, noch fragte er nach der Richtung, er hatte die Landschaft in sich und ging überall wie im eigenen. Alle Vogelstimmen kannte er, und aus dem nächtlichen Sternenschein las er die Stunden ab wie von einem Zifferblatt. Er liebte es mit dem Lauf der Flüsse zu gehen, und am nächsten fühlte er sich dem Göttlichen, wenn er sie an ihrem Ursprung aufsuchen konnte. Darum hatte er unterwegs die rauen Felsenpfade der Falterona nicht gescheut, um dem hochgeborenen Arno als Kindlein an der Wiege zu huldigen und hatte dann, auf das östliche Gebiet hinüberwechselnd, unter den Buchen des Monte Fumajuolo den dort vielfach entsprudelnden Tiberquellen das gleiche getan.
Aber er war nicht nur ein Augenmensch, dem bloß das Sichtbare gehört, er war auch ein Beschwörer, dem die Geister Rede standen. Schlösser und Burgen fragte er ab, was sie im Lauf der Jahrhunderte gesehen hatten; und über welche Stätte er schritt, da gesellte sich ihm der Genius loci und machte ihn seiner Erinnerungen teilhaft. – Es gebe nichts Vergangenes, pflegte er zu sagen, was man so nenne, das sei nur in eine tiefere Schicht hinabgestiegen, aber auf den rechten Anruf komme es gerne wieder hervor.
Denen, die ihn auf seinem Wege kennenlernten, war er ein wanderndes Geheimnis, das, ehe man