Morde am Hinterkreuz. Madina Fedosova

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Название Morde am Hinterkreuz
Автор произведения Madina Fedosova
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Год выпуска 0
isbn 9785006700512



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und des sozialen Status. Intrigen, Konflikte und Schicksale rankten sich seit jeher um den Landbesitz. Die Farm Hinterkaifeck war da keine Ausnahme.

      Im Jahr 1885, als die Frage der Nachfolge auf dem Hof anstand, wurden die Dokumente auf Cäcilie Senior ausgestellt. Dies entsprach einer alten Tradition, die in bayerischen Bauernfamilien weit verbreitet war: Land wurde in der Regel in weiblicher Linie vererbt. Diese Regel existierte nicht aufgrund feministischer Überzeugungen, sondern aus pragmatischen Gründen. Es wurde angenommen, dass Frauen stärker an das Land, an die Familie, gebunden sind und daher besser in der Lage sind, die Integrität des Hofes zu wahren, ohne ihn zwischen zahlreichen männlichen Erben aufzuteilen.

      Nach der Heirat von Cäcilie Senior im Jahr 1886 wurde ihr Mann Andreas Gruber naturgemäß Miteigentümer des Hofes. Das war durchaus üblich. Der Ehemann übernahm mit der Eheschließung die Verpflichtung, den Hof zu bewirtschaften, seiner Frau bei der Landbewirtschaftung zu helfen und die Familie zu versorgen. Im Gegenzug erhielt er das Recht auf einen Teil des Gewinns, ein Stimmrecht bei wichtigen Entscheidungen bezüglich des Hofes und, was nicht unerheblich war, einen gewissen sozialen Status.

      Andreas Gruber war fast dreißig Jahre lang, bis 1914, Miteigentümer der Farm Hinterkaifeck. In dieser Zeit spielte er zweifellos eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Hofes, indem er Entscheidungen traf, an Feldarbeiten teilnahm und mit den Einheimischen interagierte.

      Allerdings war die Arbeit auf dem Bauernhof nie einfach, und manchmal brauchte selbst eine starke Bauernfamilie Hilfe von außen. Dies galt insbesondere für die Zeiten der Aussaat und Ernte. Ohne Leiharbeiter ging es in solchen Momenten kaum.

      Damals suchten viele Menschen nach Verdienstmöglichkeiten, aber bei weitem nicht jeder war bereit, sich mit dem schlechten Charakter von Andreas Gruber abzufinden. Der Hof Hinterkaifeck hatte einen schlechten Ruf, und so hielten sich die Leiharbeiter dort nicht lange auf. Sie tauchten nur für eine Saison auf, um die schwerste Arbeit zu verrichten, und beeilten sich dann, diesen unruhigen Ort zu verlassen.

      In der kalten Jahreszeit, als die wichtigsten Feldarbeiten abgeschlossen waren, entfiel die Notwendigkeit von Saisonarbeitern. Die Familienmitglieder erledigten die laufenden Geschäfte selbst. Die einzige Ausnahme war das Dienstmädchen. Cäcilie konnte aufgrund ihres Alters und ihrer Krankheiten nicht mehr alle Haushaltsaufgaben selbst erledigen, daher lebte ständig eine Frau auf dem Hof, die im Haushalt half.

      Nach 1914 ging das Alleineigentum auf ihre Tochter Viktoria über. Zu diesem Zeitpunkt war Viktoria bereits 35 Jahre alt. Als offizielle Besitzerin galt Viktoria Gruber, deren Schicksal man schon damals als schwierig bezeichnen konnte.

      Viktoria, ein Mädchen, wie sie beschrieben wurde, bescheiden und anmutig, musste die Last des schlechten Rufs ihres Vaters Andreas tragen. Die Bewohner der Umgebung nahmen sie in erster Linie als Landbesitzerin, als “reiche Erbin”, wahr. Leider zog dies oft nicht die ehrlichsten Leute an.

      Im April 1914 heiratete Viktoria Gruber, die Tochter der Hofbesitzer von Hinterkaifeck, Andreas und Cäcilie, den Bauern Klaus Briel.

      Und obwohl dies auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche Verbindung erschien, tuschelten viele im Dorf, dass Klaus eher von eigennützigen Motiven getrieben war. Vielleicht hoffte er, seine wackelige finanzielle Situation zu verbessern, indem er die Tochter wohlhabender Bauern heiratete. Leider waren solche Zweckehen in jenen Tagen keine Seltenheit, insbesondere in ländlichen Gebieten, in denen Land und Reichtum von großer Bedeutung waren.

      Einen Monat vor der Hochzeit, als ahnten Viktorias Eltern Unheil, trafen sie eine wichtige Entscheidung. Sie überschrieben ihrer Tochter das Eigentumsrecht an dem Großteil ihres Vermögens. Möglicherweise war dieser Schritt von der Sorge um Viktorias Zukunft diktiert, dem Wunsch, ihr im Falle unvorhergesehener Umstände einen gewissen Schutz zu bieten. So gingen nach der Eheschließung drei Viertel von Hinterkaifeck offiziell in den Besitz von Viktoria über, während das restliche Viertel an Klaus, ihren Mann, ging.

      Klaus, wahrscheinlich von dem aufrichtigen Wunsch getrieben, eine starke Familie zu gründen und zu einem gemeinsamen Ziel beizutragen, nahm seinen neuen Status mit Begeisterung an. Er zog in das Haus seiner Frau, auf den Hof Hinterkaifeck, und krempelte die Ärmel hoch, um zum Wohle des Hofes zu arbeiten. Er arbeitete fleißig auf dem Feld, half im Haushalt und versuchte, seine Fähigkeit und Nützlichkeit zu beweisen. Wahrscheinlich wollte er sich den Respekt von Viktoria und ihren Eltern verdienen und ein vollwertiges Mitglied der Familie Gruber werden. Er glaubte naiverweise, dass Fleiß und Hingabe ihm helfen würden, ihre Herzen zu gewinnen und ein solides Fundament für eine zukünftige Ehe zu schaffen. Er wusste noch nicht, dass der wahre Grund für die Probleme nicht in seinem mangelnden Fleiß lag, sondern in den dunklen Geheimnissen, die in den Mauern des Hofes Hinterkaifeck verborgen waren.

      Im Dorf wurde wenig über die Ehe von Viktoria und Klaus gesprochen, und wenn doch, dann nur flüsternd, als hätte man Angst, das ohnehin schon zerbrechliche Aussehen eines Familienglücks zu zerstören.

      “Viktoria ist natürlich eine bemerkenswerte Frau, aber Klaus brauchte meiner Meinung nach eher eine Hausfrau als eine Ehefrau aus Liebe”, tuschelte die alte Frau Schmidt, die auf der Veranda saß und Sonnenblumenkerne knackte. Andere, aufmerksamere, bemerkten: “Ich habe sie einmal auf dem Jahrmarkt gesehen. Sie gingen nebeneinander her wie Fremde. Kein Wort, kein Blickwechsel.” Es wurde auch gemunkelt, dass Klaus dieser Ehe lange Zeit nicht zustimmte. “Die arme Viktoria! Sie dachte, sie würde wenigstens in Klaus Unterstützung finden, aber er liebt nur ihr Land”, bedauerte sie die barmherzige Gretchen.

      All diese Tuscheleien und Tratsch fügten sich zu einem erdrückenden Bild zusammen, wie ein Stacheldraht, der das Haus Gruber umgab. Niemand sprach offen darüber, aber jeder spürte: Zwischen Viktoria und Klaus klafft ein Abgrund. “Klaus brauchte einen Hof, keine Frau”, warfen sie verstohlen ein. Das Mitgefühl für Viktoria vermischte sich mit Verachtung für Klaus, und die allgemeine Atmosphäre erinnerte eher an eine Ruhe vor dem Sturm als an eine familiäre Atmosphäre. Und selbst die pessimistischsten Bewohner von Hinterkaifeck verstanden, dass eine solche Ehe kein gutes Ende nehmen würde.

      Nur wenige quälende Wochen nach der Hochzeit verließ Klaus Briel, als hätte er sich wie ein Gefangener in einem goldenen Käfig gefühlt, zum Erstaunen und Gerede von ganz Hinterkaifeck plötzlich den Hof und kehrte zu seinen Eltern in den bescheidenen Weiler Lack im Bezirk Neuburg-Schrobenhausen zurück. Offiziell wurde die Ursache für seine Abreise nie bekannt gegeben, sondern in nebulöse Andeutungen und Auslassungen gehüllt. Hinter dem Schleier des Schweigens brodelten jedoch Leidenschaften und vervielfachten sich Versionen.

      Einige tuschelten, dass die Ursache die unerträgliche Atmosphäre im Hause Gruber war, wo der strenge und herrschsüchtige Andreas, Viktorias Vater, alle Haushaltsmitglieder fest im Griff hatte und sich Klaus, der mehr Freiheit gewohnt war, unterdrückt und gedemütigt fühlte. Andere behaupteten, die Ursache sei ein banaler Konflikt mit Viktoria gewesen, deren Ansichten über das Leben und die Landwirtschaft völlig unvereinbar mit seinen eigenen waren.

      Es hieß, ihre Ehe habe fast sofort Risse bekommen, wie Eis unter der Frühlingssonne. Streitigkeiten zwischen Viktoria und Klaus erschütterten die Stille von Hinterkaifeck, manche hörten die Schreie sogar hinter dem Dorfrand. “Viktoria weinte wie um einen Toten”, flüsterte die alte Witwe Seiler, die nebenan wohnte, – “und Klaus brüllte wie ein Tier im Käfig.”

      Einige Zeugen dieser Streitigkeiten bemerkten in Viktorias Augen nicht nur Tränen der Kränkung und Enttäuschung, sondern auch eine versteckte Angst, als hätte sie nicht nur Angst vor ihrem Mann, sondern auch vor etwas Größerem. Und in den Augen von Klaus schwamm nicht nur Irritation, sondern offene Abscheu, als wäre Viktoria für ihn keine Frau, sondern eine Last. “Man sieht, er hat sie nicht aus Liebe geheiratet”, schüttelte Frau Müller den Kopf, – “sondern nur wegen des Landes. Und jetzt lässt er seinen Ärger aus.”

      Es gab auch eine dritte Version, die schmutzigste und unanständigste, über die man nur mit halber Stimme hinter fest verschlossenen Fensterläden sprach. Sie betraf Andreas und sein Verhältnis zu seiner Tochter Viktoria. Es wurde getuschelt, dass zwischen Vater und Tochter eine Verbindung bestand, die das Blut in den Adern gefrieren ließ und weit über