Von alten und neuen Bürowelten. Maik Marten

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Название Von alten und neuen Bürowelten
Автор произведения Maik Marten
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783752926736



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Verwerfungen und Ineffizienzen. Früher oder später würden sie dem ein oder anderen Unternehmen das Genick brechen. Es bestand dringender Handlungsbedarf, mehr Effizienz in die einzelnen betriebswirtschaftlichen Prozesse zu bringen. Bloß wie?

      Im heutigen Stadtgebiet von Philadelphia, in Nachbarschaft der Philadelphia Universität, liegt der beschauliche Stadtteil Germantown. Mitte des 19. Jahrhunderts war der Bezirk noch eine unabhängige Stadt, gegründet 1683 von einer Gruppe deutscher Siedler; Quaker und Mennoniten, die mit dem Schiff Concord aus Deutschland über den Atlantischen Ozean übergesiedelt waren, um sich hier eine neue Existenz aufzubauen. Damals nannten sie den Ort Deitscheschsteddel. Über Generationen kultivierten sie das Land, schufen Grundbesitz, sammelten Vermögen und Ansehen. Franklin Taylor entstammte einer dieser alten Quaker-Familien. Er war ein wohlhabender Anwalt, der eine Kanzlei in Germantown führte, als Mitte des 19. Jahrhunderts gerade das Maschinenzeitalter angebrochen war. Auch seine Frau Emily Winslow zählte zu einer angesehenen Familie, den Delanos, zu denen auch Franklin Delano Roosevelt gehörte. Franklins und Emilys Sohn Frederick kam am 20. März 1856 zur Welt. Seine Eltern förderten ihn mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Der Junge schien begabt, konzentrationsfähig, den Naturwissenschaften zugetan. Noch in seinen Kindheitstagen begann er damit, zu experimentieren und zu analysieren. Seine Vorliebe für Details und Akribie schien sich hier bereits abzuzeichnen. Als er das Jugendalter erreichte, spendierten ihm seine Eltern einen längeren Aufenthalt in Europa. Dort lernte er die Sprache seiner Vorfahren, dazu Französisch, Latein und Altgriechisch. Um sich auf sein Studium in Harvard vorzubereiten, begab er sich wieder zurück in sein Heimatland auf die Phillips Exeter Academy in New Hampshire, die unweit von Harvard lag. Die schwierige Aufnahmeprüfung bestand er wenig später mit Bravour. Aber sein Glück ließ ihn im Stich, denn bereits kurze Zeit nachdem er sein Studium aufgenommen hatte, sah er sich gezwungen es auch schon wieder abzubrechen. Der Grund dafür waren starke Kopfschmerzen, die ihn während der anstrengenden Lektüre ohne Unterlass plagten; vermutlich die Folge seiner extremen Kurzsichtigkeit.

      Nach reiflichem Überlegen entschied er sich 1874 zu einer Lehre als Werkzeugmacher und Maschinist bei der Enterprise Hydraulic Works in Philadelphia. Nach Ende der zweijährigen Ausbildung wechselte er zu Midvale Steel, dessen damaliger Präsident eng mit seiner Familie befreundet war. Unter dessen Protegé gelang ihm der schnelle Aufstieg vom Werkstattschreiber, über den Vorarbeiter- und Meisterposten bis hin zum Leitenden Ingenieur des Werkes.

      Von Anfang an war ihm die Arbeitsweise der Arbeiter und Vorgesetzten ein Dorn im Auge. Überall sah er undurchdachte, ineffiziente Arbeitsvorgänge. Er unterstellte dem größten Teil der Belegschaft Faulheit und Müßiggang; nannte es Sich-Drücken-Vor-Der-Arbeit oder Drückebergerei.3 Die Arbeiter würden zu viel schwatzen, zu viele Zigarettenpausen einlegen und vor jeder bereits absehbaren Pausenzeit ihre Arbeitsintensität langsam absenken: „So allgemein verbreitet ist gerade dieses „Sich-Drücken“, dass sich kaum ein guter Arbeiter finden lässt, der nicht einen beträchtlichen Teil seiner Zeit darauf verwendet, ausfindig zu machen, wie langsam er arbeiten kann, um trotzdem bei seinem Arbeitgeber den Eindruck zu erwecken, er arbeite in flottem Tempo“4, hielt Taylor in seinen Aufzeichnungen fest. Schuld daran trugen seiner Ansicht nach aber nicht die Arbeiter selbst. In ihnen sah er einfach das menschliche Bedürfnis, den geringsten Widerstand zu gehen und sparsam mit ihren Kräften umzugehen. Dort, wo sie sich dem prüfenden Blick des Vorgesetzten entziehen konnten und sich ihnen die Gelegenheit zum Müßiggang bot, ergriffen sie sie auch. Es waren daher auch nicht die Arbeiter, denen man die Missstände anlasten konnte. Wie Taylor beobachten konnte, schien kein einziger Vorgesetzter eine Ahnung zu haben, wie die einzelnen Tätigkeiten der Arbeiter auszusehen hatten, wie lange sie dauern durften, und mit welchen Mitteln man sie am besten vollzog. Niemand von ihnen hatte sich offensichtlich jemals Gedanken über die einzelnen Arbeitsschritte und Bewegungen der Arbeiter gemacht. Keiner wusste, ob die Arbeitsmittel und Werkzeuge wirklich sinnvoll verwendet wurden oder ob es nicht auch bessere Möglichkeiten für deren Einsatz gab. Beladen mit diesen Eindrücken beschloss Taylor, es zu seiner Aufgabe zu machen, sich alle Arbeitsvorgänge genau anzuschauen, um den Vorgesetzten und Vorarbeitern konkrete Verbesserungsvorschläge zu geben. Eine Zeit lang ging das auch gut, bis sich seine Kollegen zunehmend in ihrer Arbeit eingeschränkt und belästigt fühlten. Sie entzogen ihm das Vertrauen und beschwerten sich bei seinen Vorgesetzten. Die Situation begann zu eskalieren und Taylor musste schließlich das Handtuch werfen und Midvale verlassen.

      Aber seine Mühen waren nicht umsonst gewesen. Bei einigen einflussreichen Vorgesetzten hatte Taylor einen bleibenden Eindruck hinterlassen können. 1898 holte ihn ein ehemaliger Kollege, der inzwischen von Midvale zu Bethlehem Steel gewechselt war, zu sich in die Firma, um als Beratender Ingenieur die Betriebsprozesse zu optimieren. Dort sollte man Taylor ausreichend Gelegenheit bieten, umfangreiche Zeitstudien und verfahrenstechnische Experimente durchzuführen.

Frederick Winslow Taylor (1856-1915)

      Abb. 4: Frederick Winslow Taylor (1856-1915); Quelle: wikipedia.org

      Er begann damit ein kleines Team aufzustellen, das ihn dabei unterstützen sollte, die unzähligen Arbeitsprozesse der gesamten Belegschaft zu beobachten und aufzuzeichnen. Gemeinsam erstellten sie einen großen Lageplan, in dem sie sämtliche Vorgänge der Arbeiter festhielten und wie die Figuren auf einem Schachfeld bewegen konnten.5 Roheisenträger, Schaufler und Maurer dienten ihnen als erste Versuchspersonen. Taylors Mitarbeiter notierten peinlichst genau sämtliche Handgriffe, Tätigkeiten und Pausen, die von den Arbeitern eingelegt wurden. Ebenso ermittelten sie die Wege, die während der Arbeit zurückgelegt und Gewichtsmengen, die mit der eigenen Körperkraft gestemmt wurden. Danach begann die eigentliche Analysearbeit: das Zerlegen der Arbeitsprozesse in möglichst kleine Teilstücke. Jedes Element wurde anschließend bewertet, unterschiedlich gewichtet und mit einem Punktebewertungssystem verknüpft. Die Herausforderung bestand darin, für jeden Arbeitsvorgang den optimalen Weg, das richtige Werkzeug und den minimalsten Ressourceneinsatz zu wählen. Alles was überflüssig war, jede Handlung, jeder Anschein von Zeitverschwendung, wurde weggelassen. Hatte man dies erreicht, setzte man die Teilstücke wieder zu festgelegten Arbeitsfolgen zusammen. Übrig blieb der one best way6, der optimale Weg, um eine Arbeit effizient ausführen zu können. Taylor stellte dabei fest, dass es viel effizienter war, die zerlegten Arbeitsschritte in anderer Form wieder zusammenzulegen. Anstatt Arbeiter eine Vielzahl unterschiedlicher Tätigkeiten ausführen zu lassen, bündelte man gleiche oder ähnliche Arbeiten zusammen und ließ sie fortan von Spezialisten ausführen. Dabei wurde es aber nötig, die einzelnen Arbeiter und deren Funktionen aufeinander abzustimmen. Genaue, minutiöse Zeitvorgaben mussten gemacht werden, um einen reibungslosen Ablauf aller Teilprozesse zu gewährleisten. Nur dann konnte das neue Regime reibungslos funktionieren. Hatte man erst mal jeden einzelnen Arbeitsprozess auseinandergenommen, analysiert, optimiert und wieder neu zusammengesetzt, löste man das Wissen wie ein Produkt hergestellt wurde aus dem Erfahrungsschatz der Arbeiter heraus. Nach dem bisherigen Produktionssystem hatte die Leitung des Unternehmens kaum Zugriff auf das Wissen und die Erfahrung der einzelnen Arbeiter. Taylor schrieb: „Die Leiter der besten Betriebe nach althergebrachter Form erkennen freimütig an, dass ihre 500 bis 1000 Arbeiter, die auf 20 bis 30 Handwerksarbeiten verteilt sind, diese Menge von ererbten Kenntnissen ihr eigen nennen, während sie der Leitung selbst fremd sind.“7 Taylor wollte diesen Umstand unbedingt ändern: „Den Leitern fällt es z.B. zu, all die überlieferten Kenntnisse zusammenzutragen, die früher Alleinbesitz der einzelnen Arbeiter waren, sie zu klassifizieren und in Tabellen zu bringen, aus diesen Kenntnissen Regeln, Gesetze und Formeln zu bilden, zur Hilfe und zum Besten des Arbeiters bei seiner täglichen Arbeit.“8 Das neue System extrahierte das Wissen und hielt es in den Betriebsplänen und Büchern fest. Implizites Wissen wurde so zu explizitem Wissen gemacht. Damit konnten die Tätigkeiten jetzt auch ohne Weiteres jedem beliebigen Arbeiter vermittelt werden. Fiel ein Arbeiter aus, ließ er sich wesentlich einfacher als bisher ersetzen.

      Taylor nannte seine Methodik Scientific Management. Bekannt wurde sie auch unter seinen Namen: Taylorismus. Seine Arbeiten wiesen den Weg in die fortschreitende Arbeitsteilung und steigende Produktivität. Den Preis, den die Arbeiter zu zahlen hatten, waren Entmündigung, Monotonie, Langeweile aus Unterforderung, Austauschbarkeit