Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen. Ludwig Bechstein

Читать онлайн.
Название Deutsches Sagenbuch - 999 Deutsche Sagen
Автор произведения Ludwig Bechstein
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742749215



Скачать книгу

Müller war froh, daß wieder einer kam, nahm ihn gern

       in Dienst und hieß ihn die nächste Nacht mahlen. Der

       neue Bursch hatte schon von dem Mühlspuk gehört,

       fürchtete sich nicht, ließ sich gegen Mitternacht vom

       Glöcklein wecken, schüttete frisch auf, tat einen guten

       Zug aus der Bulle und legte sich auf ein paar Mehlsäcke,

       zu schlafen, neben sich legte er aber die scharfgeschliffene

       Mühlbarte. Er war noch nicht ganz eingeschlafen,

       als die Türe der Meisterstube, die herein in

       das Werk führte, aufging und ein schwarzer Zottelbär

       in die Mühle getreten kam. Er schnoperte und griff

       erst am Beutelkasten herum, ging zum Scheidekasten,

       schritt die Treppe hinauf an die Trommel und wurde

       jetzt den neuen Mahlburschen gewahr, der, die Hand

       am Beile, die ganze Zeit über den Bären beobachtet

       hatte, denn die Laterne brannte hell. Jetzt reckte der

       Bär mit Gebrumm die eine Tatze nach dem Burschen

       aus, der, nicht faul, hob das Beil, hieb zu, und die

       Tatze lag am Boden. Laut auf heulte der Bär und

       stürzte in die Meisterstube zurück. Als man am andern

       Morgen das Frühmahl einnahm, fehlte die Müllerin;

       sie lag im Bette, und fehlte ihr der rechte Vorderarm,

       da holte der Bursche die Tatze, und die Tatze

       war der Vorderarm, und die Müllerin war eine unholde

       Hexe. Solchen Hexenspuk mit Müllerinnen, die

       auch als Katzen erscheinen und arge Teufeleien treiben,

       erzählt man sich auch viel in Thüringen und

       Sachsen.

       34. Chorkönig

       Das alte Münster zu Straßburg hatte Chlodwig erbaut,

       der Frankenkönig; es war ursprünglich nur ein

       hölzern Gebäu, und im Jahre 1002 brannte es Hermann,

       Herzog von Elsaß und Schwaben, der mit Kaiser

       Heinrich um die Kaiserkrone stritt, fast ganz zum

       Grunde nieder, doch blieb das Chor Karl des Großen

       stehen, aber 1007 schlug das Wetter hinein, und der

       Rest des Baues sank in Trümmer. Da geschah es, daß

       Kaiser Heinrich II. im Jahre 1012 gen Straßburg kam,

       des Münsters Untergang beklagte und sich die Regel

       und Ordnung der Chorherren vorlegen ließ, die gefiel

       ihm also wohl, daß er bei sich beschloß, der Bürde

       seiner Königskrone zu entsagen und ein Chorherr in

       Unser Lieben Frauen Münster zu Straßburg zu werden.

       Das erschreckte gar sehr alle seine Getreuen,

       denn das Reich bedurfte seiner, und redeten ihm zu,

       von diesem Vorhaben abzustehen; Kaiser Heinrich

       aber, den man seines frommen Sinnes und seiner

       Mildtätigkeit gegen Klöster und Stifte den Heiligen

       nannte – er war auch der Begründer des Bistums

       Bamberg – wollte mitnichten von seinem Vorsatz lassen.

       Nun war zu Straßburg ein Bischof, der hieß Werinhard,

       als dieser sahe, daß der Kaiser sich nicht abbringen

       ließe von seinem Vorhaben, so nahm er vor,

       ihm die geistlichen Gelübde abzunehmen, vor allem

       das Gelübde des Gehorsams. Wie der Kaiser das geleistet

       hatte, befahl er ihm kraft Gottes und in dessen

       Namen, die Kaiserkrone zu behalten und des Reiches

       Regiment und Herrschaft, das seiner nicht entraten

       könne. Der Kaiser sah sich überlistet, doch gebot er,

       so solle fortan an seiner Statt ein anderer Chorherr im

       Frauenmünster Gott dienen und das Amt versehen

       und am Altar für ihn singen und beten, der solle der

       Chorkönig heißen. Stiftete auch eine reiche Pfründe in

       das Gotteshaus, das war die Chorkönigspfründe, die

       hat bestanden weit über tausendundsiebenhundert

       Jahre. Und Bischof Werinhard war es, der hernach im

       Jahre 1015 den Grundstein zu dem steinernen Münster

       in Straßburg legte.

       35. Sankt Ottilia

       Es saß auf Hohenburg ein stolzer Graf, Herr Attich

       geheißen, dessen Frau gebar ihm ein Mägdlein, und

       das war blind. Darob ergrimmte Herr Attich und

       schrie: Ein blindes Kind will ich nicht, fort mit dem

       Wurme, und schlagt ihm den Schädel an einem Felsen

       ein!, und tobte fort, die Mutter aber sandte alsbald die

       Amme in Begleitung treuer Knechte mit dem blinden

       Kinde weit, weit von dannen, gen Palma, das liegt

       jenseits der Alpenberge in Friaul, dort war ein Frauenmünster,

       und dorthin ward Herrn Attichs Töchterlein

       gebracht. Im Bayerlande aber war ein Bischof mit

       Namen Erhardus, der hörte im Traume eine Stimme:

       Mache dich auf gen Palma in das Stift, dort findest du

       ein blindes Mägdelein, das sollst du taufen und Ottilia

       heißen. Erhardus folgte ohne Weilen der Stimme des

       Herrn, so er im Traume vernommen, zog gen Palma

       in das Stift und fand das Kind und taufte es und segnete

       es, und siehe, da gingen über der Taufe dem

       Kinde die Augen auf, und ward sehend. Und Ottilia

       blieb im Frauenmünster zu Palma, erwuchs darinnen

       züchtiglich, erlernte die Orgel schön zu spielen, der

       Blumen zu pflegen und ihrer Pflichten treulich zu

       warten. – Herr Attich aber ward vom Himmel heimgesucht,

       daß er Reue und Leid fühlte ob seines von

       ihm verstoßnen Kindes willen, und es trieb ihn zu

       einer Pilgerfahrt nach Welschland, sein Kind zu suchen,

       und da er der Tochter Aufenthalt erfahren, zog

       er des rechten Weges und hörte nun in Andacht das

       Wunder, das mit ihr sich begeben, und führte sie zurück

       nach Hohenburg und an das Herz ihrer Mutter.

       Glanz und Reichtum umgab das holde fromme Kind,

       aber das alles lockte sie nicht, und auch als der Ruf

       ihrer Schönheit und Lieblichkeit sich in der Gegend

       verbreitete und Freier angezogen kamen, die gern um

       ihre Hand werben mochten, zeigte sie sich allen abgewendet,

       wollte allein des Heilands Braut sein. Da nun

       unter diesen Freiern ein reicher Graf