Oliver Hell Abschuss. Michael Wagner J.

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Название Oliver Hell Abschuss
Автор произведения Michael Wagner J.
Жанр Языкознание
Серия Oliver Hell
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847647683



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Er starb durch den Blutverlust, war allerdings nicht sofort tot. Der Pfeil hat die Herzkammer nur angeritzt, er ist innerlich verblutet. Außerdem hat er Abschürfungen an den Knien und an den Händen. Und er stand, als der Pfeil ihn traf. Da bin ich mir sicher.“

      Sie legte den Kamm und die kleine Schale auf den silbernen Tisch neben sich und hob den linken Arm des Opfers hoch, um Hell ihre Ergebnisse zu zeigen.

      »Er hat ihn leiden lassen, unser Mörder«, mutmaßte Hell und betrachtete die Abschürfungen an Lohses Hand.

      »Wundert Sie das?«, fragte sie und Hell las zwischen den Zeilen, dass auch die Doktorin keine Sympathien für Zoophile hegte.

      Hell antwortete nicht, also fuhr die Gerichtsmedizinerin fort: „Ich habe an der Hose allerhand Erde verschiedenster Art gefunden. Sie ist in der KTU. Er muss gekrochen sein. Die Tatsache, dass ich Erde über den Blutflecken gefunden habe, sagt mir, er war schon getroffen, als er weiter gekrochen ist. Das kann die KTU aber sicher besser belegen.“

      Hell sah vor seinem inneren Auge den Mann durch den Wald kriechen, irgendwo hinter ihm der Mann mit der Armbrust.

      Hat er gejammert? Hat er den Kerl verflucht?

      War er überrascht worden? Wenn ja, wobei? Das würden die Kollegen mit den weißen Overalls beantworten. Dieses Szenario hatte er nicht erlebt. Die Tatortermittler hatten einträchtig neben dem Toten auf dem Boden gekniet. Alles, was nach einer Spur aussah, wurde fotografiert. Alles, was nach Beweis aussah, in die großen Asservatentüten verpackt. Sie hatten den Tatort oder besser, den Fundort der Leiche weiträumig mit Flatterband abgesperrt und waren dann den Spuren Lohses gefolgt.

      Dabei hatten sie die Kreise um den Fundort der Leiche erweitert. Der Bus, der Spurensicherer stand auf einem Waldweg. Dort waren sie mittlerweile angekommen. Die Spuren führten weiter in Richtung der angrenzenden Weide. Die Kollegen hielten ihre Digitalkameras im Anschlag und platzierten die kleinen Dreiecke mit den Nummern neben den weiteren Spuren. Die Blitzlichter zuckten auf. Sie hatten heute einen langen Tag vor sich. Wenn sie hier fertig waren, wartete auch noch die Wohnung des Opfers auf sie. Schließlich wurde Lohses Leichnam abtransportiert.

      „Das sieht alles nach einer Jagd aus.“

      „Jawohl.“

      „Aber wer hält still, wenn einer mit einer Armbrust vor ihm steht? Da geht einer ein großes Risiko ein. Er darf nicht danebenschießen. Bis er das Teil wieder geladen hat, ist der andere an ihm dran und haut ihn um. Wie lange hat das Warten vor dem Schuss gedauert? Sekunden, Minuten, länger? Für den, der weiß, dass er gleich sterben soll, für den ist es eine Ewigkeit. Haben die beiden gesprochen oder war schon alles gesagt?“

      Sie schaute ihn an und fast durch ihn hindurch, ein typischer Beisiegel-Blick.

      „Wir brauchen diesen Jäger hier. Vielleicht hat er etwas bemerkt.“

      *

      Warten. Die Schattenseite der Ermittlungsarbeit. Warten auf die Ermittlungsergebnisse, warten auf eine Zeugenaussage. Der Jäger war nicht zu erreichen. Hell steckte den Zettel mit der Telefonnummer wieder ein. Missmutig ging er zurück in sein Büro und setzte sich an seinen Schreibtisch. Dort fand er eine Notiz von Klauk vor. Er hatte vor, sich die Nachbarn von Lohse vorzunehmen. Alle Kollegen waren unterwegs.

      Er erlaubte sich, seinen Gedanken ihren Lauf zu lassen. Die Verantwortung für die Lösung des Falles lag in seinen Händen. Wie immer. Das war er gewöhnt. Doch diesmal machte es ihm Angst. Was es auch immer war, er hatte eine Vorahnung. Er hätte seine Rente verwettet, wenn es sich bei dem Fall um einen normalen Fall handelte. Wer macht einen solchen Aufwand? Tötet mit einer Jagdwaffe, treibt sein Opfer nachts durch einen dunklen Wald. So jemand hatte für sich eine Grenze überschritten und befand sich in einem Vakuum.

      Mitten in seine Gedanken klingelte das Telefon. Hell schreckte auf. Nachdem er das Telefon fünfmal hatte klingeln lassen, hob er den Hörer ab.

      Hell stöhnte innerlich auf. Es war jemand von der Presse. Der Mann am anderen Ende kam sofort zum Thema. Er hätte Informationen über einen Toten im Wald. Der Pressefritze war dreist. Er wisse, dass es so sei, also solle Hell gar nicht versuchen, ihn abzuwimmeln. Hell fragte ihn, woher er seine Informationen habe. Es gäbe nur Informationen gegen Informationen heraus. Er fragte nach einem Treffen. Hell war sich sicher, dass keiner von der KTU die Presse informiert hatte. Aus seinem Team kam auch keiner auf solch eine Idee. Der Jäger. Nein, da war er sich sicher, der würde auch nicht die Presse informieren. Woher hatte er die Infos? Hell stimmte einem Treffen zu. Aus Neugier. Ein Teil seines Bewusstseins sträubte sich gegen seine eigene Entscheidung.

      Hell fiel ein, dass er den Bereitschaftspolizisten anrufen wollte. Er musste unbedingt den Tonbandmitschnitt des zweiten Anrufes anhören.

      *

      Daniel Hesse lag daheim auf dem Bett. Er trug noch die Schuhe, die er getragen hatte, als er der Polizistin im Treppenhaus begegnet war. Er schlief. Traumlos. Die letzte Nacht hatte er ohne Schlaf in seinem Versteck verbracht. Mit einer Tarnplane hatte er seinen provisorischen Unterschlupf, den er gebaut hatte, abgedeckt. Seine Spuren hatte er mit einem frisch gebrochenen Ast verwischt.

      Von seinem Versteck aus hatte er den Mann auf der Weide aufgespürt. Atemlos hatte er ihn mit dem Fernglas beobachtet, um sicher zu sein. Ihn dort zu finden, war ein totaler Glückstreffer gewesen. Die Grünfläche lag in der Nähe der Weide, auf der vor drei Monaten die ersten toten Tiere gefunden wurden.

      Drei Monate war das jetzt her. Die Zeit hatte er genutzt und sich akribisch vorbereitet. Vorbereitet auf seine Jagd. Und er hatte sich viele Nächte um die Ohren geschlagen. Erfolglos. Mehr als einmal wollte er schon aufgegeben. Keiner käme erneut an denselben Ort zurück, um abermals solch eine Tat auszuführen. Doch es passierte. Er hatte sich tagelang die Weiden in der Gegend angesehen. Hatte sich gemerkt, wo die Bauern ihre Tiere hintrieben und sich auf die Lauer gelegt.

      Hesse erwachte. Er sah den Perversen vor sich. Er sah ihn sterben. Er hatte ihn getötet.

      Es war ganz einfach gewesen.

      Hesse stand auf und machte sich einen Kaffee.

      War es reine Intuition, die ihn dorthin geführt hatte, alles Weitere war minutiös geplant. Die Waffe hatte er im Internet besorgt. Es gab viele Internetanbieter. Also konnte er relativ sicher sein vor einer frühzeitigen Entdeckung. Die Pfeile stammten aus einem anderen Online-Shop. Die ganze weitere Ausrüstung hatte er bar bezahlt. In diversen Geschäften.

      So konnten seine Aktivitäten nicht zurückverfolgt werden.

      Nächtelang hatte er im Wald Schießübungen gemacht. Zuerst blieb er völlig erfolglos. Er traf nicht einmal einen Baum aus fünf Metern.

      Völlig frustriert war er sogar versucht, es einfach sein zu lassen. Du willst zu schnell zu viel. Er zwang sich, mit mehr Ruhe zu trainieren. Mit mehr Abgeklärtheit klappte es immer besser. Er lernte die Waffe kennen, fand heraus, dass er nicht atmen durfte, wenn er den Abzug betätigte. Er traf seine Ziele und vergrößerte die Abstände zu ihnen. Im Zuge dieses Erfolgs kehrte seine Sicherheit zurück. Selbst aus über zwanzig Metern traf er zuletzt ein Blatt, was er an einen Baum geheftet hatte.

      Der ganze Plan war ihm zuerst wie ein wirres Spiel vorgekommen. So wie früher. Cowboy und Indianer. Doch mit der Gewissheit, die Waffe zu beherrschen, fiel auch eine Entscheidung. Er würde den Plan durchziehen. Daher rechnete er alles sorgfältig durch.

      Aus der Skizze in seinem Kopf entwickelte sich eine Strategie. Und er stellte sich die Frage, ob er wahrhaftig zum Äußersten bereit sei.

      Doch jetzt besaß alles eine völlig andere Qualität. Er hatte eine Entscheidung gefällt und ein Mensch war gestorben.

      Eiskalt. Grausamkeit erzeugt normalerweise Verwirrung. Nicht bei ihm. Er fühlte sich frei. Hesse stellte die Tasse in die Spüle neben all das andere schmutzige Geschirr. Innerlich losgelöst brütete er über sein Problem. Die Polizei war zu schnell in der Wohnung von Lohse aufgetaucht. Die Bücher, die er aus der Wohnung gestohlen hatte, lagen auf dort dem Speicher. Dorthin war er aus der Wohnung geflohen, Sekunden,